MAROKKO
Die Wahlen vom 7. September haben König Mohammeds Kurs der ökonomischen Modernisierung bestätigt
Zwei Wochen vor den Parlamentswahlen wandte sich König Mohammed VI. in einer Fernsehansprache an sein Volk. "Ihr seid aufgerufen, euere Zukunft zu entscheiden", sagte der 44-jährige Monarch, der seinen Vater Hassan II. 1999 auf dem Thron beerbt hatte. "Demokratische Partizipation ist Teil der Pflichten eines Staatsbürgers." Der König der Armen, wie Mohammed VI. auch genannt wird, warnte davor, Wahlstimmen zu verkaufen, denn damit würde man das freie Wahlrecht aufgeben, das durch die Verfassung garantiert sei.
Der königliche Appell zeigte aber offensichtlich wenig Wirkung. Die durchschnittliche Wahlbeteiligung lag bei katastrophalen 37 Prozent, und einige Wähler konnten der finanziellen Versuchung nicht widerstehen, ihren Stimmzettel zu verkaufen. Nicht in einem Ausmaß, dass man die Wahlen grundsätzlich infrage stellen müsste, die 52 internationalen Beobachter sprachen nur von "kleinen Irregularitäten", ansonsten von "Transparenz und "Professionalität". Aber es hinterlässt einen faden Beigeschmack. Die Wahlen sollten, noch mehr als die "ersten freien" von 2002, ein Beweis für eine funktionierende Demokratie in Marokko sein. Die Wählerstimmen waren relativ billig, 100 oder 200 Dirham (10 bis 20 Euro) in den Tagen vor der Abstimmung und bis zu 500 Dirham (50 Euro) wenige Stunden vor Schließung der Wahllokale.
"Zu mir sind sie mehrfach nach Hause gekommen", erzählt Echnia, die als Putzfrau arbeitet und alleinerziehende Mutter von drei Söhnen ist. Sie sollte sich als Wählerin registrieren lassen. "Aber das ist doch alles Blödsinn", meint sie mit einer abwertenden Handbewegung. "Nicht einmal für 200 Dirham, obwohl ich das Geld für meine Familie gut gebrauchen könnte."
Bei Abdillah, der sich mit einem gerade mal fünf Quadratmeter großen, bis an die Decke vollgepropften Krämerladen die Pension aufbessert, ist es nicht anders. Der 68-Jährige kennt alle Höhen und Tiefen Marokkos seit der Unabhängigkeit 1956. Natürlich schwärmt er von den alten Zeiten. Während der Internationalen Zone (1923-1956) in Tanger hatte er einen gutgehenden Tabakladen im Zentrum der Stadt, die damals ein Eldorado des Jetsets, der Kunst und der Schmuggler war. "Wozu wählen, es gibt nur einen Chef im Haus, den König", meint der stets frisch und fein rasierte ältere Herr. "Parteien sind nur Spielereien, bei denen es um Geld und Positionen geht." Insgesamt traten 33 Parteien mit 6.691 Kandidaten um die 325 Sitze im Parlament an. Ein Wirrwarr von Namen, Symbolen und Programmen, zwischen denen es keine großen Unterschiede gibt. "Die meisten sind nur Institutionen, die sich selbst verwalten, nach Positionen haschen und den Interessen von Einzelnen oder bestimmten Gruppen folgen", meint Khalid Amine, Professor für postkolonialistische Studien an der Universität Tétouan. Auch programmatisch gebe es keine entscheidenden Differenzen. Anderes Vokabular, letztendlich die gleichen Inhalte. "Sie sind national, sozial, für ökonomischen Liberalismus, gegen Arbeitslosigkeit und für wirtschaftlichen Fortschritt." Selbst die islamistische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) mache da keine große Ausnahme, so Khalid Amine. Die PJD galt vor den Wahlen als großer Favorit, gerade im Ausland und bei internationalen Medien. Der englischsprachige Nachrichtensender Al-Dschasira, der mehrere Tage live aus Rabat und Tanger berichtete, kürte die Islamisten vor Stimmabgabe mehr oder weniger schon zum großen Gewinner. "Die PJD", hieß es im Tanger-Büro des Senders, "genießt breite Popularität unter den Armen, islamische Ansichten sind sehr stark." Der Sieg der 1989 gegründeten PJD hätte gut in den Trend gepasst: Nach der Türkei (Wahl des Islamisten Abdullah Gül zum Präsidenten) sind die Islamisten nun auch in Marokko auf dem parlamentarischen Vormarsch. Selbst Mohammed VI. soll bekümmert gewesen sein, eventuell über die Nominierung eines PJD-Kandidaten zum Premierminister nachdenken zu müssen. Aber nun ist alles anders gekommen. Die stärkste Partei wurde Marokkos älteste politische Organisation, die Unabhängigen (Istiqlal), mit 52 Sitzen. Gefolgt von den Islamisten (PJD), die zu ihren 41 aus der Wahl 2002 nur fünf Sitze hinzugewinnen konnten. Der große Verlierer ist die Union der sozialistischen populären Kräfte, die mit 52 Sitzen stärkste Fraktion war und jetzt auf überraschende 38 Sitze abgesackte. Das Wahlergebnis wird prinzipiell allerdings wenig ändern. Die Islamisten enden auf alle Fälle erneut in der Opposition, die anderen müssen eine große Koalition aus einer Vielzahl von Parteien bilden. Von den letztendlich 20 Parteien, die im Parlament vertreten sind, verfügen zwölf über weniger als zehn Abgeordnete.
Nach dem Selbstmordanschlag in Algerien, der sich nur einen Tag vor den Wahlen in Marokko ereignete, gab es Befürchtungen, Al-Qaida könne in Rabat oder Casablanca ähnliches versuchen. Neben diesem Schreckensszenario kursierten noch andere Katastrophenplanspiele. Sollten die Islamisten als überwältigende Sieger aus den Wahlen hervorgehen, würden das der marokkanische König, die Armee, der Machsen (Machtelite um den Königspalast) einfach hinnehmen? Steht Marokko vor einem Bürgerkrieg? "So etwas hat nichts mit einer Analyse der Realität in Marokko zu tun", erklärt Professor Khalid Amine, "sondern mit dem Negativbild von muslimischen Ländern, die ein Synonym für Desaster sind." So begründet und wichtig der Kampf gegen islamistischen Terror sei, sollte man ihn doch nicht zum Gespenst hochstilisieren, das Schritt für Schritt die Weltherrschaft ergreift.
Die Wahlen sind ein deutliches Votum für König Mohammed VI. und seine ökonomische Erneuerung Marokkos. Innerhalb nur eines Jahres wurden Städte renoviert, Parks angelegt, Strassen erneuert und für den Tourismus kompatibel gemacht. Man baute neue Autobahnen und Zugstrecken, öffnete den nationalen Luftraum für internationale Fluggesellschaften. In Tanger ist ein neuer, supermoderner Containerhafen in Betrieb, der in Zukunft 140.000 Arbeitsplätze schaffen soll. Im Norden Marokkos, entlang der Mittelmeerküste, werden mehrere Milliarden Euro in den Tourismussektor und in eine 500 Quadratkilometer große Industriezone investiert. Die beinahe zweihundert ausländischen Firmen, die sich kürzlich in Marokko niederließen, erhalten drei Jahre lang Steuerfreiheit. Das Königreich befindet sich in einem ökonomischen Modernisierungsprozess, der sich in nie gekannter Geschwindigkeit vollzieht.
Der Normalbürger spürt davon bisher nichts in seinem Geldbeutel. Aber zum ersten Mal kann er die gewaltigen Veränderungen beobachten, die vor sich gehen. "Die Wahlen waren eine Abstimmung zwischen zwei verschiedenen Marokkos", erklärt Khalid Amine. "Zum einen die Welt des Königs, die für Erneuerung steht, und dagegen die alte Welt von Mauschelei und Korruption der Parteien."
Die PJD passt eigentlich nicht in dieses Raster. Sie gilt als absolut saubere Partei und als Kraft der Erneuerung, die sich bewusst vom alten System abgrenzt. Die Islamisten haben zwar fünf Abgeordnete hinzugewonnen, doch kommen 46 Sitze einer Niederlage gleich. Bei den Wahlen 2002 war die PJD in wesentlich weniger Wahlkreisen angetreten und hatten 41 Sitze erhalten. Als der Generalsekretär, Saad Eddine Othmani, vor den Wahlen mindestens 70 Sitze prognostizierte, hatte er nur den Stimmenanteil von 2002 auf alle Wahlkreise hochgerechnet. Othmani vergaß dabei allerdings etwas Entscheidendes. Nach dem 11. September 2001 gab es eine Islam-Welle, voller Euphorie und Sympathie für die Religion. Damit ist es heute vorbei. Der radikal-militante Islam mit seinen Bomben auf unschuldige Zivilisten hat alles ruiniert. Marokko musste es erfahren, als im Mai 2003 bei Attentaten in Casablanca 45 Menschen starben und über 100 verletzt wurden. Weitere Selbstmordattentatsversuche gab es dieses Jahr in Casablanca und Meknes. Die Menschen sind entsetzt und verärgert, auch weil ihnen die Terroristen erneut Überwachung und Kontrolle einbrachten. Das Wahlergebnis ist eine Absage an den politischen Islam, selbst in der Form einer moderaten PJD, die immer wieder betont, wie sehr sie zu den Prinzipien der Demokratie steht. Von den 15,5 Millionen wahlberechtigten Marokkaners ließen sich nur etwa sieben Millionen registrieren. Von diesen gaben wiederum nicht alle ihre Stimme ab. "Die Wahlen sind der Beweis", sagt Khalid Amine. "Die Islamisten sind keine große Volksbewegung, wie sie immer behaupten, sondern eine Minderheit."