Biographie
In der Geschichte des Guerilleros "Otto" verschmelzen Realität und Erfindung
Um mit einem Fakt zu beginnen, "Otto" gibt es wirklich. Oswaldo Barreto Miliani, 1934 in einem verschlafenen venezolanischen Andendorf geboren, tritt früh in die Kommunistische Jugend ein, muss aus politischen Gründen 1953 das erste Mal sein Land verlassen. In Salamanca beginnt er ein Jurastudium, geht dann nach Paris, seinem Traumziel. Er führt sein Studium weiter, tritt in die KP ein, und gerät in Kreise des algerischen Widerstandes. 1957 heiratet er eine adlige iranische Studentin, die leidvolle Geschichte einer einseitigen Liebe beginnt. Weitere Stationen sind Algerien, Tschechoslowakei, Kuba, Chile zu Zeiten des Pinochetputsches, England, Italien. Kaum ein Name der internationalen Revolution, dessen Weg er nicht kreuzt, Gefängnis und Folter bleiben nicht aus. Er schließt sich der venezolanischen Guerilla an, aus dieser Zeit stammt sein Deckname "Otto", wird für sie zum Bankräuber und Teil eines von Beginn an aussichtlosen Kommandos. Er muss erneut ins Exil und kehrt erst rund zehn Jahre später nach Venezuela zurück. Eine Krebserkrankung 1990 führt zu einer Art Lebensbeichte. Daraus einen lesenswerten Roman gemacht zu haben, ist das Verdienst der polyglotten, 1953 in London geborenen, mit einem Verwandten des Titelhelden verheirateten Autorin.
Lisa St. Aubin stellt eingangs klar, dass sich dieser Roman so einiges gegenüber dem realen Leben des Helden herausnimmt, dies aber mit dessen Zustimmung tut. Was Fakt und was Fiktion ist, dürften nur wenige unterscheiden können. Ob all das, was berichtet wird, Otto selbst geschehen ist, oder ob in ihm als Romanfigur verschiedene Lebensläufe seiner Generation verschmolzen wurden, ist egal. Es könnte jedenfalls so gewesen sein. Ob man deshalb den Erklärungsansatz des "magischen Realismus" für diesen Roman braucht, mag dennoch dahinstehen. Während des Lesens, dies ist nicht die geringste Leistung dieses Buches, gerät diese Unklarheit in Vergessenheit. Einfach deshalb, weil es eben Lebensläufe gibt, die nicht so glatt gezogen auf ein Ziel zusteuern, wie man das aus der einschlägigen FAZ-Spalte gewohnt ist. In so manch vorgeblicher Magie steckt mehr Realismus, als für möglich gehalten wird.
Der Roman ist stimmig, liest sich flüssig, gibt Einblicke in ein interessantes Leben, vermittelt einige der Lateinamerika bewegenden Ereignisse und legt immer wieder die vielschichtige Mentalität der venezolanischen Andengesellschaft offen. Im Verlauf der Schilderung wundert der Leser sich immer wieder, wie ausgerechnet dieser schmächtige, nach eigener Aussage feige Mann, dessen Leidenschaft der Welt der Bücher und der vor allem deutschen Philosophie gehört, in die abenteuerlichsten Situationen eines Tat-Menschen gerät und dabei immer wieder, wenn auch knapp, davon kommt.
Die beim Leser für Otto entstehende Symphatie ist sicher auch dem Umstand geschuldet, dass die an den traditionellen Entwicklungs- und Bildungsroman erinnernde Geschichte eines vielfältigen Scheiterns in oft schonungsloser Offenheit geschildert wird. Der seinem Vater abgetrotzte Aufenthalt in Spanien wird zur Leidenszeit. Geschockt durch den "religiösen Wahn" der Osterzeit in Salamanca wird Otto zum Antikatholiken und Antikleriker. Die "Alptraumgesellschaft" Tschechoslowakei mit ihren "Schattenmenschen" führt zum Bruch mit dem Kommunismus. Schließlich die große Teile der eigenen Vergangenheit widerlegende Erkenntnis: "Niemand hat das Recht, einen anderen Menschen zu zwingen, sich zu befreien."
Die Selbstbefreiung aus der Existenz eines "um sich selbst kreisenden Außenseiters" hat Otto in ein Leben geführt, in dem er sich rückblickend als "Hamster im Rad des Schicksals" fühlt. Dennoch gewinnt man den Eindruck, dass hier niemand verbittert auf sein Leben zurückblickt. Otto stellt sich den auch nur bruchstückhaften Ergebnissen. Diese nahezu heitere Gelassenheit ist beeindruckend.
Deckname Otto. Roman.
Insel Verlag, Frankfurt/M.; 574 S.; 22,80 ¤