ALLERGIEN
Einkaufen ist für Lebensmittelallergiker schwierig. Der Gesetzgeber versucht zu helfen. Nicht genug, bemängeln Fachleute.
Angefangen hat es mit einer Nussschnecke in der Schule. "Ich biss hinein und plötzlich juckte mein ganzer Mund", sagt Helene Vogelsang. Die junge Ärztin reagiert seit jenem Tag allergisch auf Nüsse. Doch das war erst der Anfang. Kiwis, Kirschen, Getreide - ihre Liste der unverträglichen Nahrungsmittel wächst mit jedem Jahr. Kantinenessen und Restaurantbesuche werden so zu heiklen Angelegenheiten. Selbst das Einkaufen ist schwierig - ständiges Lesen der Etiketten, vorsichtiges Ausprobieren neuer Lebensmittel und die permanente Angst, doch etwas falsches zu Essen, sind Alltag für jeden Lebensmittelallergiker.
Etwa vier Prozent der Deutschen sind gegen bestimmte Nahrung allergisch, Tendenz steigend. Lebensmittelallergien unterscheiden sich in ihrer Ursache nicht von denen anderer Allergien. Ausgelöst werden sie durch Eiweißstrukturen, auf die der Körper zu sensibel reagiert. In jedem Lebensmittel kommen Eiweiße vor und normalerweise erkennt der Körper, dass sie harmlos sind. Wenn diese Strukturen jedoch vom Immunsystem irrtümlicherweise als gefährlich eingestuft werden, produziert es Antikörper. Am Ende der folgenden Reaktionskette spürt der Allergiker Symptome wie Atemnot, Übelkeit oder gar einen anaphylaktischen Schock, eine Überreaktion des Körpers, die tödlich enden kann.
Doch längst nicht jede Reaktion auf ein Lebensmittel ist eine Allergie. Nicht immer ist das Immunsystem Schuld an den Beschwerden. Auch wenn ein Enzym im Körper schlecht oder gar nicht funktioniert, werden Lebensmittel nicht gut vertragen. Dies wird als Nahrungsmittelintoleranz bezeichnet. Zudem reagieren manche Menschen empfindlich auf Zusatzstoffe wie den Geschmacksverstärker Mononatriumglutamat. Im Unterschied zu Allergien bildet der Körper hier keine Antikörper. Die Mastzellen werden direkt aktiviert und die entstehenden Symptome ähneln stark jenen von echten Allergien, weswegen diese Form Pseudoallergie heißt.
Ob jemand im Laufe des Lebens eine Nahrungsmittelallergie entwickelt, hängt von vielen Faktoren ab. Wichtig ist die genetische Veranlagung. Gibt es in der Familie bereits Allergien, so ist die Wahrscheinlichkeit höher, ebenfalls eine Unverträglichkeit zu entwickeln. Daneben spielen Umweltfaktoren eine große Rolle. Prinzipiell kann jedes Lebensmittel eine Allergie auslösen. Häufig ist ausschlaggebend, wie oft und wie viel man von einer Speise isst. Das erklärt, warum in den USA die Erdnussallergie besonders häufig ist, es auffallend viele Soja-Allergien in Asien gibt und viele Menschen im Mittelmeerraum empfindlich auf bestimmte Fischsorten reagieren. Ein weiterer Faktor für die Entstehung von Lebensmittelallergien sind Kreuzreaktionen. So reagieren etwa achtzig Prozent der Birkenpollenallergiker auch überempfindlich auf Äpfel, Karotten, Haselnuss oder andere Nahrungsmittel. Denn die Eiweiße von Pollen und Lebensmittelallergenen weisen große Strukturähnlichkeiten auf.
Wird eine Lebensmittelallergie diagnostiziert, ist Verzicht bislang die beste Therapie. Neue Behandlungsmöglichkeiten sucht das von der EU geförderte Forschungsprojekt EuroPrevall. Auch die Arbeitsgruppe von Professor Stefan Vieths, Leiter der Allergologie des Paul-Ehrlich-Instituts in Langen sucht nach Lösungen. Dort wird derzeit ein Impfstoff zur Behandlung der Karottenallergie entwickelt. Dabei wird die genetische Information des allergieauslösenden Eiweißmoleküls leicht verändert und in ein Virus eingebaut. Wenn der Impfstoff nun einem Patienten gespritzt wird, werden Körperzellen vom Virus infiziert. Diese beginnen, das Allergen zu produzieren. Dadurch erkennt das Immunsystem das Eiweiß als körpereigen an und bekämpft es nicht. "Noch ist unklar, ob und wann dieser Impfstoff in der Praxis verfügbar sein wird", sagt Vieths.
Dass es bald Impfungen gegen sämtliche Lebensmittelallergene geben wird, ist indes sehr unwahrscheinlich, obwohl neunzig Prozent aller Nahrungsmittelallergien durch nur zwölf Allergene ausgelöst werden. Immerhin müssen diese, darunter glutenhaltiges Getreide, Soja, Nüsse, Milch und Eier, seit 2005 unabhängig von der verwendeten Menge auf das Produktetikett geschrieben werden. Im nächsten Jahr kommen noch zwei weitere Stoffe hinzu: Lupinen und Weichtiere wie Muscheln. Die Kennzeichnungspflicht verpackter Ware gilt EU-weit. Sie bezieht sich im Wesentlichen auf Fertigprodukte. Für lose Ware aus Bäckerei, Metzgerei oder Kantine gilt diese Vorschrift nicht. "Mit Hinblick auf versteckte Allergene reicht die derzeit bestehende Deklarationspflicht nicht aus. Sie muss deutlich verbessert werden, um die Betroffenen zu schützen", sagt Professor Thorsten Zuberbier, Mediziner an der Charité in Berlin und Leiter der Europäischen Stiftung für Allergieforschung.
Leider existieren in Deutschland und der EU keine Daten, bis zu welcher Konzentration ein Allergen relevant ist und deshalb gekennzeichnet werden sollte. Studien hierzu fehlen, doch aus der Sicht der Deutschen Gesellschaft für Allergologie und Klinische Immunologie ist ein Höchstwert von einem Milligramm Allergen pro Kilogramm Lebensmittel sinnvoll. "Unterhalb dieses Wertes ist davon auszugehen, dass beim normalen Verzehr des entsprechenden Lebensmittels bestenfalls mit leichten allergischen Reaktionen bei manchen Allergikern zu rechnen ist", sagt Vieths. Übertriebene Vorsicht hilft den Allergikern allerdings wenig. Die Bezeichnung "kann Spuren von Nüssen enthalten" ist freiwillig und viele Hersteller schreiben dies aus Gründen der Produkthaftung auf die Verpackungen, egal wie unwahrscheinlich es ist, dass das Allergen tatsächlich im Artikel vorkommt. So müssen Betroffene unnötig auf eine Vielzahl von Lebensmitteln verzichten. "Ich verlange ja gar nicht die Kennzeichnung aller Produkte", sagt die Allergikerin Helene Vogelsang. "Mir würde es genügen, wenn es von jeder Sorte eine für Allergiker gäbe und diese deutlich gekennzeichnet wäre".
Im Gegensatz dazu hält die Metro Group, eines der weltweit größten Handelsunternehmen, die bestehende Regelung für ausreichend. "Weitergehende gesetzliche Kennzeichnung brächte dem betroffenen Verbraucher keinen Mehrwert", sagt Jürgen Homeyer, Leiter der Pressestelle des Unternehmens. "Eine schärfere Deklaration von Allergenen, die die Metro Group ausdrücklich nicht für erforderlich hält, würde neue Produktverpackungen bedeuten sowie den Produktionsprozess beeinflussen."
Experten wie Professor Zuberbier hingegen fordern größere Akzeptanz für die Betroffenen. "Die Politik sollte sich mehr für die Rechte allergischer Verbraucher einsetzen", sagt der Mediziner. Dazu gehörten Schaffung, Stärkung und Ausbau von Netzwerken und Kommunikation mit allen relevanten Kräften und Institutionen in unserer Gesellschaft.