DIÄTWAHN
Nahrung macht satt, nicht mehr. Ein Appell an den gesunden Menschenverstand.
Gesund soll sie sein, unsere Ernährung. Doch was ist bitte "gesund"? Wer entscheidet, was wir essen sollen und was nicht? Nun, jede Nation, die etwas auf sich hält, subventioniert Fachgesellschaften, die dem Volke Empfehlungen für eine gesunde Ernährung verkünden. Die Folge: Wenn es um das Essen geht, kocht jedes Land sein eigenes Süppchen. Der Bedarf des Menschen hängt in erster Linie von seinem Pass ab. Den Schweden gilt der Alkohol als größtes Übel, die Franzosen halten ihn für die beste Anti-Aging-Medizin - nach kritischer Auswertung derselben Studien, die zuvor die Schweden geprüft hatten.
Was für den Alkohol recht ist, ist für Vitamine billig: So benötigte der Bundesdeutsche vor der Wende 75 Milligramm Vitamin C am Tag, der DDR-Bürger musste sich damals mit 45 Milligramm bescheiden. Da ist es nur logisch, dass der Bedarf nach der Wiedervereinigung auf 100 bis 150 Milligramm stieg. Als Europäer reichen dem Deutschen allerdings schon 30 Milligramm. Und als Mensch? Da liegt der Bedarf bei lumpigen fünf Milligramm, eine Dosis, die auch derjenige nicht unterschreitet, der Obst und Gemüse meidet wie der Teufel das Weihwasser. Denn Vitamin C wird zahllosen Fertigprodukten zur Verlängerung der Haltbarkeit oder zur Verbesserung der Maschinenfreundlichkeit zugesetzt - vom Fruchtpulver über das Mehl bis zur Salami.
Nicht nur jedes Land hat seine eigenen Regeln, sondern auch jede Zeit. Gerade hier gilt das alte Bonmot, dass die gesicherten Erkenntnisse von heute unsere großen Irrtümer von morgen sind. War vor Jahren noch Fleisch die hochwertigste aller Speisen, wird heute einer vegetarischen Ernährung das Wort geredet. Böse Zungen werten dies als Hinweis auf eine rasante Evolution des menschlichen Verdauungstraktes, die sich präzise an den Berichtszeiträumen der Fachgremien orientiert. Je nachdem dürfen wir uns mal als Raubtier mit dem Darm eines Tigers und dann wieder als Rindvieh mit einem Pansen fühlen.
Aktuell stehen Getränke hoch im Kurs. Während die empfohlenen Trinkmengen je nach Fachgremium schwanken, sind sich die Fachleute in einem Punkt einig: Man soll auf jeden Fall trinken, bevor man Durst hat. Mit der gleichen Logik könnten die Experten die Toilette aufsuchen, bevor sie Harndrang verspüren. Wieviel ein Mensch trinkt, hängt vor allem davon ab, wie hoch der Wassergehalt seiner festen Speisen ist. Eine Reihe von Gemüsearten, zum Beispiel Gurken, enthalten sogar mehr Wasser als Fruchtsaft oder Bier. Soll man zum Gurkensalat nun etwas trinken oder doch lieber etwas Vernünftiges essen? Wer glaubt, nun den Gipfel der Irrationalität zu kennen, irrt: Die "Viel-Trinken"-Marotte wird noch überboten vom Sauerstoff-Wasser: Offensichtlich ist vielerorts noch unbekannt, dass der Mensch nicht mit dem Verdauungstrakt nach Luft schnappt, sondern mit der Lunge atmet. Doch der Markt der Darmatmer wächst unaufhörlich.
Wie einfach die Weltbilder der Ernährungsexperten sind, fasziniert. Da wird Milch gegen Osteoporose empfohlen, "weil da Calcium drin ist" - so als ob der Knochen vorzugsweise aus Kreide bestünde und sich oral zugeführtes Calcium wie von Geisterhand geführt seinen Weg ins Skelett bahnt und sich genau dort plaziert, wo es den Knochen härtet. Anhand der vorliegenden Studien lässt sich jedenfalls dieser Ratschlag nicht stützen. Mit der gleichen Logik müßte man vor Calcium warnen, um einer arteriellen Verkalkung vorzubeugen. In der Tat zeigte eine Studie am Menschen, dass die Einnahme von Calciumtabletten Arteriosklerose fördert. In Sachen Osteoporose-Prävention gibt es nur einen gesicherten Rat: Finger weg von Diäten. Aber das wird geflissentlich übersehen.
Es gibt für jedes komplizierte Problem eine Lösung. Die ist einfach, logisch und falsch: Bei hohem Gewicht ist ganz klar eine Diät angesagt. Wegen des Erfolges gibt es jedes Jahr ein Dutzend neuer. Inzwischen ist es eine Binsenweisheit, daß jede Hungersnot den Körper darauf trainiert, das Futter besser zu verwerten. Passiert dies regelmäßig, dann ist Übergewicht eine zwangsläufige Folge (Jojo-Effekt). Es steht heute wohl außer Zweifel, dass massives Übergewicht bei Frauen in vielen Fällen weniger ein Ergebnis von Maßlosigkeit bei Tisch ist, sondern in erster Linie Resultat von Ernährungsberatung und Diätkampagnen.
Der Körper setzt alles daran, ein einmal erreichtes Gewicht zu halten. Jedes verlorene Gramm wird durch eine Steigerung des Appetits, durch Heißhunger und Fressattacken sowie durch eine Verbesserung der Futterverwertung wieder zurückgewonnen. Wer regelmäßig Diäten oder Fastenkuren macht, den bedrohen quasi regelmäßig Hungersnöte, Missernten oder Kriege. Woher soll der Organismus denn wissen, daß sein Mensch eine Frauenzeitschrift las oder Opfer einer Gesundheitssendung im Fernsehen wurde? Er legt sich für jede Hungersnot ein Reserve-Fettpölsterchen zu. Nicht einmal das Fettabsaugen vermag den gewünschten Erfolg zu garantieren. Das Fett kehrt zurück.
Immerhin hat sich der Jojo-Effekt in der Gemeinde herumgesprochen. Aber welcher Diätwillige erfährt, welch schwerwiegende gesundheitliche Folgen das Abnehmen für ihn haben kann? Unter anderem Osteoporose und Knochenbrüche, erhöhter Harnsäurespiegel, Störungen der Leberfunktion und Störungen im Wasser- und Elektrolyt- haushalt. Besonders riskant: fettarme Diäten. Sie haben mit einer zeitlichen Verzögerung häufig Gallensteine zur Folge. Wird weniger Fett zugeführt, konzentriert sich die Flüssigkeit in der Gallenblase und beginnt auszukristallisieren.
Die größte Gefahr vor allem für junge Menschen geht von Diäten in Verbindung mit Ausdauersport zum Zwecke der Gewichtskontrolle aus. Dies ist nicht selten der Einstieg in eine Essstörung. Ursache ist die Produktion körpereigener Suchtstoffe, so genannter Endorphine, die zur Abhängigkeit führen können. Die Opfer sind dann abhängig von Hunger und steter Bewegung. Dass dies vor allem bei Jugendlichen die wichtigsten auslösenden Faktoren sind, zeigen nicht nur epidemiologische Studien, sondern auch Tierversuche. Es ist versuchstechnisch nicht sonderlich aufwändig, junge Ratten in die Magersucht zu führen - ganz ohne Psychotricks: Es reichen Diät und ein Laufrad.
Die Datenlage ist eindeutig: Je mehr das hohe Lied des schlanken Körpers gepredigt wird, desto mehr Diätversuche, desto mehr jugendliche Raucher, desto höher der Alkoholkonsum von Jugendlichen und desto mehr Essstörungen. So finden wir uns in der paradoxen Situation wieder, dass mit wach-sender Aufklärung und Prävention nicht die Gesundheit zunimmt sondern die Angst vor Krankheiten, und in der Folge eine Zunahme von Suchtkrankheiten. Wenigstens die Experten können sich nicht beklagen. Denn ihre Auftragslage verbessert sich und ihr Arbeitsplatz bleibt auf Dauer gesichert. Vorwerfen kann man ihnen nun wirklich nichts. Sie haben ja alles so gut gemeint.
Selbst die hartleibige Deutsche Gesellschaft für Ernährung mußte auf ihrem Jahreskongress 2007 eingestehen: "Die Ernährungswissenschaft muss sich künftig als Wissenschaft von der Rettung der Volksgesundheit lösen und sollte keine Heilsversprechen mehr abgeben."
Warten wir's ab. Wären die vielen Ratschläge richtig, dann wären zahlreiche Völker mit ihrer oftmals einseitigen Ernährung längst ausgestorben. Pauschale Ernährungsregeln sind ebenso vertrauenswürdig, wie die Idee einer gesunden Schuhgröße für alle. Jeder Mensch ist anders. Deshalb bekommt auch jedem etwas anderes. Eine gesunde Kost muss zu allererst bekömmlich sein - einfach weil Unbekömmliches nicht gesund sein kann. Merke: Essen macht nicht schön, schlank oder gesund. Essen macht satt!