Schwerer Neuanfang
Anthony D. Kauders beschreibt jüdisches Leben in Deutschland nach 1945
Eine doppelte Bürde hatten die Juden in Deutschland nach 1945 zu schultern: Sie mussten den Holocaust und seine Nachwirkungen verarbeiten und waren dabei erheblichen Anfeindungen von außen ausgesetzt, weil sie "im Land der Täter" blieben. Der Historiker Anthony D. Kauders hat sich mit seinem Buch "Unmögliche Heimat" einem im Gegensatz zur Holocaust-Forschung wenig beackerten Feld gewidmet und auf breiter Quellenbasis jüdisches Leben in Deutschland von 1945 bis 1990 beschrieben - nicht nur chronologisch, sondern auch thematisch geordnet; so ist das Werk mehr als eine rein geschichtliche Wiedergabe.
"Historiker versuchen Typisches zu entdecken. Und das Typische an den Juden in der Bundesrepublik waren ihre Schuldgefühle", beschreibt Kauders seine Grundthese. Viele Jahrzehnte sei das Leben der Juden in Deutschland bestimmt gewesen durch das schlechte Gewissen, als Überlebende des Nationalsozialismus weiter unter den "Mördern" zu leben, statt nach Israel auszuwandern. Sie seien erheblichem Rechtfertigungsdruck von Israel und verschiedenen jüdischen Institutionen ausgesetzt gewesen. Um sich den Konflikt mit ihrem schlechten Gewissen leichter zu machen, hätten sie verschiedene Strategien entwickelt:
Charakteristisch sei das Leben "auf gepackten Koffern" gewesen. Die Juden in der Bundesrepublik behaupteten sich und anderen gegenüber, dass sie keinesfalls auf Dauer in Deutschland bleiben wollten. Daraus hätten sie ein ganz bestimmtes Verhältnis zu Geld, Besitz und Beruf entwickelt, schreibt Kauders. Die Tendenz: Sie betrachteten Berufe als etwas, das Mobilität ermöglicht. Die Juden hätten selten Grundbesitz erworben oder sich langfristigen Geschäften gewidmet, da sie das zu stark gebunden hätte. "So gab es viele jüdische Immobilienhändler, aber kaum Fabrikbesitzer", stellt der in England lehrende Autor fest.
Eine weitere typische Strategie des schlechten Gewissens sei eine besondere Loyalität gegenüber Israel gewesen. Die sei auch immer wieder vehement eingefordert worden: Während des Sechs-Tage-Krieges 1967 habe es beispielsweise nicht nur Ermahnungen, sondern öffentliche Beschämungen von Juden gegeben, die nicht genug für Israel spendeten.
Eine intellektuelle Rechtfertigung für den Verbleib in Deutschland sei der unermüdliche Einsatz der Juden für die Demokratie gewesen, die sie mit dem Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus gleichsetzten. Die Juden hätten sich somit als Demokratiegarant und "Geschenk" an die Bundesrepublik gesehen. Im Gegenzug dieses "Gabentausches" erwarteten sie Anerkennung. Davon hätten beide Seiten profitiert: Bei vielen Deutschen habe sich die Überzeugung festgesetzt, dass Demokratie und Judenfeindschaft unvereinbar seien, und die Sensibilität gegenüber jüdischen Belangen sei gewachsen. Andererseits habe die Rolle der deutschen Juden als Mittler zwischen Bundesrepublik, Israel und Juden in aller Welt den westdeutschen Eliten genutzt.
Die große Zäsur sind - so Kauders - die 1980er-Jahren gewesen: Gegen das Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod" von Rainer Werner Fassbinder und gegen den Besuch des Bitburger Soldatenfriedhofs von Ronald Reagan und Helmut Kohl protestierten auch Juden. Das ungeschriebene Gesetz, nicht auffallen zu wollen, sei so durchbrochen worden, schreibt der Historiker. Eine neue, kritischere Generation habe entschieden, in Deutschland zu bleiben und sich einzumischen. Sie nahm auch die israelische Politik nicht mehr einfach hin. Dan Diner und Micha Brumlik beispielsweise gründeten 1980 die "Frankfurter Jüdische Gruppe", die sich ein jüdisches Selbstbewusstsein ohne Zionismus zum Ziel setzte und scharfe Kritik an Israels Nahostpolitik übte.
Symbolisch sei die Einweihung des Frankfurter Jüdischen Gemeindezentrums 1986 gewesen: "Wer ein Haus baut, will bleiben." Von nun an habe Geld nicht mehr dieselbe Rolle gespielt, die Koffer seien ausgepackt worden und ein Großteil der Juden habe sich gefühlsmäßig entschlossen, Teil der deutschen Gesellschaft werden zu wollen. Die später zuwandernden Juden aus den ehemaligen GUS-Staaten hätten den Trend verstärkt, da sie keine Sonderrolle als ethnisch-kulturelle Minderheit in Deutschland spielen wollten.
Kauders sieht die Zukunft der Juden in Deutschland in "jüdischen Räumen in Europa". Schon allein durch die Mischehen löse sich die jüdische Ethnie zunehmend auf, im günstigsten Fall bleibe die Religion. Kauders setzt auf vielfältige religiös-kulturelle Praktiken als Form moderner jüdischer Identitäten anstelle des Festhaltens an alten Glaubenssätzen. Von den jüdischen Gemeinden fordert er Mut und Fantasie zur demokratischen Erneuerung von unten.
Kauders Werk ist eine spannende, über das Einzelschicksal hinausgehende Analyse jüdischer Befindlichkeit im Land der Täter. Gerade für Nichtjuden ist es interessant zu erfahren, wie sehr die Erfahrung des Holocausts noch mehrere Generationen in ihrem gesamten Lebensstil - bis hin zur Berufswahl - beeinflusste. Dabei wird deutlich, wie billig es für die Nachkommen der Täter ist, zu äußern, mit der Vergangenheit nichts mehr zu tun haben zu wollen, während die Opfergenerationen einfach keine Möglichkeit dazu hatten. Gleichzeitig zeigt sich, dass das schon lange vorhandene gemeinsame Interesse an einer stabilen Demokratie für die jüngeren Generationen ein Faktor ist, der Juden und Nichtjuden in Deutschland über die letzten verbliebenen Gräben hinweg verbinden könnte.
Unmögliche Heimat. Eine deutsch- jüdische Geschichte der Bundesrepublik.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2007; 300 S., 22,95 ¤