12. November
2007
Sicherheit
darf keinen Vorrang vor Freiheit haben
Renate
Gradistanac' persönliche Erklärung zur
Vorratsdatenspeicherung
Erklärung
nach § 31 GO der Abgeordneten Christoph Strässer, Niels
Annen, Dr. Axel Berg, Lothar Binding (Heidelberg), Marco
Bülow, Siegmund Ehrmann, Gabriele Frechen, Martin Gerster,
Renate Gradistanac, Angelika Graf (Rosenheim), Gabriele Gronenberg,
Gabriele Hiller-Ohm, Christel Humme, Josip Juratovic, Annette
Kramme, Ernst Kranz, Jürgen Kucharczyk, Katja Mast, Dr.
Matthias Miersch, Dr. Rolf Mützenich, Andreas Nahles, Dr.
Ernst Dieter Rossmann, Bernd Scheelen, Ewald Schurer, Wolfgang
Spanier und Dr. Dietmar Staffelt (alle SPD) zur Abstimmung
über den Entwurf eines Gesetzes zur Neurregelung der
Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter
Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie
2006/24/EG (Zusatztagespunkt 15a).
„Trotz
schwerwiegender politischer und verfassungsrechtlicher Bedenken
werden wir im Ergebnis dem Gesetzentwurf aus folgenden
Erwägungen zustimmen.
1.
Grundsätzlich stimmen wir mit dem Ansatz der Bundesregierung
und der Mehrheit unserer Fraktion dahingehend überein, dass
die insbesondere durch den internationalen Terrorismus und dessen
Folgeerscheinungen entstandene labile Sicherheitslage auch in
Deutschland neue Antworten benötigt. Dabei sind wir uns auch
bewusst, dass insbesondere durch die rasante Entwicklung der
Telekommunikation auch in diesem Bereich Maßnahmen zur
Verhinderung schwerster Straftaten notwendig sind.
2. Auf der
anderen Seite ist jedoch zu beachten, dass - nicht zuletzt
befördert durch die ständige Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts - Freiheitsrechte wie das Recht auf
informationelle Selbstbestimmung konstitutiven Charakter für
die Existenz unseres Gemeinwesens haben und die Beachtung dieser
Rechte immer wieder angemahnt wurde. Wir erinnern an die
Entscheidungen zur Volkszählung, zur „akustischen
Wohnraumüberwachung“, zum Luftsicherheitsgesetz oder zum
niedersächsischen Polizeigesetz.
3. In diesem
Abwägungsprozess gilt für uns, dass Sicherheit keinen
Vorrang vor Freiheit genießen darf, will man beides
gewährleisten. Weder gibt unsere Verfassung ein Grundrecht auf
Sicherheit her, noch ist vorstellbar, dass es ohne Abschaffung der
Freiheit eine absolute Sicherheit gegen jedwede Gefährdung
durch kriminelles Handeln geben kann.
4. In den
letzten Jahren hat es eine zunehmende Tendenz gegeben, ohne die
Effektivität bestehender Gesetze zu überprüfen, mit
neuen Gesetzen vermeintlich Sicherheit zu erhöhen und
Freiheitsrechte einzuschränken. Der vorliegende Gesetzentwurf
befördert diesen Paradigmenwechsel und ist deshalb bedenklich.
Am Beispiel der sog. Vorratsdatenspeicherung sei dies verdeutlicht:
Mit dem Gesetz werden die Telekommunikationsunternehmen zum ersten
Mal verpflichtet, die im Gesetz aufgeführten Daten zum Zwecke
unter anderem. der Strafverfolgung über einen Zeitraum von
sechs Monaten zu speichern. Das ist natürlich ein gravierender
Unterschied zur bisherigen Rechtslage, wonach den Unternehmen
gestattet war, zu Abrechnungszwecken die entsprechenden Daten bis
zu sechs Monaten zu speichern. Aus dem Recht der Unternehmen wird
eine Verpflichtung, auch zu anderen Zwecken. Damit ist die
Einschätzung nicht von der Hand zu weisen, dass hier ein
Generalverdacht gegen alle Bürger entsteht, die solche
Kommunikationsmittel benutzen, ohne dass für die Speicherung
als solcher ein konkretes Verdachtsmoment bestehen muss.
Ähnliche Bedenken gelten auch hinsichtlich der Regeln im
Bereich der Telekommunikationsüberwachung hinsichtlich der
unterschiedlichen Behandlung sogenannter
Berufsgeheimnisträger. So ist uns zum Beispiel nicht
ersichtlich, warum Abgeordnete des Deutschen Bundestages einen
höheren Schutz genießen sollen als Rechtsanwälte,
Ärzte und insbesondere unter der Geltung des Art. 5 GG auch
Journalisten.
5. Wir werden
diesem Gesetzentwurf trotz dieser Bedenken zustimmen, weil es den
Rechtspolitikern unserer Fraktion gelungen ist, hohe Hürden
für die Umsetzung dieser problematischen Restriktionen
einzuziehen. Ein generell geltender Richtervorbehalt zum Beispiel
für den Zugriff auf bei den Telekommunikationsunternehmen
anlasslos gespeicherte Verbindungsdaten, das ausdrückliche
Verbot des Rückgriffs auf Informationen, die zum Kernbereich
der privaten Lebensgestaltung gehören, die Beschränkung
des Zugriffs und der Verwertung auf „Straftaten von
erheblicher Bedeutung“ machen den dargestellten
Paradigmenwechsel weniger unerträglich. Auch die erfolgreichen
Bemühungen der Bundesregierung, Veränderungen bei der
EU-Richtlinie 2006/24/EG herbeizuführen (so war dort für
die Vorratsdatenspeicherung ein Zeitraum von 36 Monaten
vorgesehen), werden ausdrücklich gewürdigt. Der
Gesetzentwurf trägt deshalb nach unserer Auffassung nicht den
Makel der offensichtlichen Verfassungswidrigkeit auf der Stirn wie
beispielsweise die Vorschläge aus dem Innen- bzw.
Verteidigungsministerium zur online- Durchsuchung, zum Einsatz der
Bundeswehr im Inneren über die Vorschriften des Artikel 35
Absatz 2,3 Grundgesetz hinaus oder gar zur Neuauflage eines
Luftsicherheitsgesetzes. Eine Zustimmung ist auch deshalb
vertretbar, weil davon auszugehen ist, dass in absehbarer Zeit eine
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts möglicherweise
verfassungswidrige Bestandteile für unwirksam erklären
wird.“
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