Kreis Stade (je). Robert Antretter spürt
die Kälte der „völlig ökonomisierten
Gesellschaft“. Der Bundesvorsitzende der Lebenshilfe hat
große Sorge, dass Behinderte, Ältere und Schwächere
zunehmend als Kostenfaktor betrachtet werden und unter die
Räder geraten. „Es gibt zu wenige, die sich dagegen
wehren“, sagte der 66-Jährige in einem Gespräch in
den Schwinge Werkstätten.
Der ehemalige SPD-Bundespolitiker (1980 bis 1998) und
Ethik-Fachmann weilte auf Einladung der Abgeordneten Dr. Margrit
Wetzel in der Region. Er besichtigte am Morgen die Schwinge
Werkstätten des Deutschen Roten Kreuzes in Stade, die 460
Menschen mit geistigen, körperlichen und seelischen
Behinderungen in Fertigung und Produktion beschäftigen.
„Eine große und großartige Einrichtung“, nahm
der Baden-Württemberger als Eindruck mit. Aber wie die
bundesweit 3 000 Einrichtungen der Lebenshilfe steht sie unter
wirtschaftlichen Zwängen. Seit drei Jahren sind die
Pflegesätze eingefroren, die steigenden Personalkosten werden
nicht mehr gedeckt.
„Wir stoßen an unsere Grenzen“, seufzt
Vorsitzender Helmut Barwig. Mitarbeitern werde einiges
„zugemutet“, noch zahle man nach Tarif. „Die
Politik lässt uns allein“, klagen
Geschäftsführer Klaus-Dietmar Otto und Werkstattleiter
Ulrich Tipke. Sie tue so, als ließen sich die Standards
erhalten. So müssten die Heime den Spagat ganz auf sich
gestellt meistern. Margrit Wetzel ist sauer auf die Pflegekassen
und spricht von einem „Pflegesatzdiktat“. Wie eng der
Verhandlungskorridor ist, weiß sie auch aus den Altenheimen.
Sie persönlich spricht sich für eine deutliche
Erhöhung des Pflegeversicherungsbeitrags aus. „Wer als
Fachkraft mit Liebe und Motivation Menschen pflegt, muss auch
anständig bezahlt werden“, sagt die Politikerin.
Antretter und Wetzel, die sich schon lange kennen und
schätzen, diskutierten am Nachmittag in Osten mit Gästen
über die demografische Entwicklung und ein neues Leitbild im
Gesundheitswesen. Der Baden-Württemberger rechnete vor, dass
die Kosten explodieren werden, weil zunehmend alte geistig
behinderte Menschen versorgt werden müssen. Trotzdem seien
dies Summen, über die sich im Business- und
Börsengeschäft keiner aufrege.
„Wir können nicht alles an der Frage der
Wirtschaftlichkeit messen“, so Antretter. „Mittel
für Menschen, die unsere Hilfe brauchen, dürfen kein
Posten sein, den wir problematisieren.“
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