"Wie sind Sie durchgekommen?"
Bargeshagen, Mittwoch, 9.08 Uhr. Dirk Manzewski (SPD) wartet schon ein paar Minuten, als sein erster Gesprächspartner des Tages auf dem Hof der Recyclingfirma in Bargeshagen, einem kleinen Ort nahe der Ostseeküste, einbiegt. „Sind Sie aber pünktlich“, sagt Matthias Hübner erstaunt und reicht dem Bundestagsabgeordneten erstmal die Hand. „Und wie sind Sie durchgekommen?“ Eine Frage, die Manzewski heute noch öfter hören wird. Nicht die große Politik, sondern die Lage an den Zufahrtsstraßen um Heiligendamm, dem Tagungsort des G8-Gipfels, ist hier das beherrschende Thema. Dann folgt, wie noch so oft an diesem Tag, ein kurzes Fachgespräch über die Lage an den Kreuzungen, die besten Umgehungsstraßen oder eine Anekdote über die Vorbereitungen zum Mammutgipfel, der die Region schon seit Monaten in Atem hält. „Im Laufe der letzten Tage sind hier alle Gully-Deckel verschweißt worden“, erzählt Hübner dem Abgeordneten. Besorgnis erregender ist für den Mann mit dem grauen Zopf aber die Tatsache, dass die großen orangefarbenen Müllautos seiner Firma, die in der Region Sondermüll entsorgen, jetzt mit stundenlangen Verspätungen rechnen müssen.
Rostock, 10 Uhr, Steigenberger Hotel Sonne. Claudia Roth kommt aus dem Fahrstuhl, bepackt mit zwei Handtaschen, in Jeans und Lederjacke. Sie ist gut gelaunt, sieht aber müde aus – sie ist seit Stunden wach, hat schon um sieben Uhr ihr erstes Interview gegeben. Seit Freitag ist die Bundestagsabgeordnete und Grünen-Chefin in Rostock, hat an der großen Protestkundgebung der G8-Kritiker teilgenommen und wird heute den ganzen Tag auf dem Alternativgipfel der Globalisierungskritiker sein und an mehreren Workshops teilnehmen.
Bis zum nächsten Termin dauert es noch eine Stunde – Zeit genug für einen Kaffee und die Auswertung der heutigen Zeitungen. Der stellvertretende Grünen-Pressesprecher Jens Althoff hat schlechte Nachrichten für die Chefin: Die „tageszeitung“, das Leib- und Magenblatt der Grünen, hat in einem Artikel Katja Kipping, stellvertretende Vorsitzende der Linkspartei zitiert. Ihr hätte ein Friedensaktivist gesagt, die Linke kümmere „sich um die Regale, die Roth um die Redezeit“ – tatsächlich ein Zitat des ehemaligen PDS-Abgeordneten und jetzigen Demonstrations-Organisatoren Monty Schädel.
Aus Claudia Roths Gesicht schwindet die gute Laune. Die Linke geht ihr ohnehin auf die Nerven: Gerade erst habe sich Katja Kipping bei einer Protestaktion verschiedener Gruppen, bei der zum Gewaltverzicht aufgerufen wurde, „einfach für das Foto schnell hinter unser Plakat gestellt. Das ist schon stark.“ Doch da kann Jens Althoff seine Chefin wieder beruhigen: Die Bilder verschiedener Aktionen, an denen die Grünen beteiligt waren, seien „gut gelaufen, auch die ,Tagesschau’ hat kurz berichtet“. Trotzdem: Roth ärgert sich. „Das hätte denen doch auffallen müssen, dass das ein altes Zitat von Schädel ist. Jens, mit der taz müssen wir nochmal reden. Das geht so nicht.“ Nachdem das geklärt ist, wird es Zeit für den Aufbruch zum Stadthafen. Doch der wird unterbrochen durch einen Anruf auf dem Handy von Jana Abresch, Roths persönlicher Mitarbeiterin. Am anderen Ende ist das BKA: Man habe die Vermutung, es könne bei dem Workshop, den Roth am Nachmittag moderieren will, zu Störungen kommen – deshalb soll die Parteichefin Personenschutz bekommen.
Keine gute Idee, findet die. „Das will ich nicht. Das will ich auf keinen Fall.“ Gerade erst hatten Zeitungen hämisch berichtet, Roth habe sich nach Anfeindungen einer kleinen Gruppe von Flüchtlingsaktivisten auf der Rostocker Großdemonstration mit ihren Bodyguards von der Spitze der Demonstration zurückgezogen – „dabei waren das keine Bodyguards, sondern Parteifreunde!“ Zwei Telefonate später ist eine Regelung gefunden, mit der Claudia Roth leben kann: Die Beamten in Zivil holen sie nicht vom Hotel ab, sondern stoßen erst auf dem Veranstaltungsgelände dazu und begleiten sie dann unauffällig.
Bargeshagen, 10.15 Uhr. Manzewski bereiten die Absperrungen kaum Sorgen, denn der 47-Jährige kennt in der Gegend fast jeden Feldweg. Seit 1998 ist er Direktkandidat des Wahlkreises 17 (Bad Doberan-Güstrow-Müritz), der mit dem G8-Gipfel in Heiligendamm seit Wochen die Schlagzeilen beherrscht. Wie immer in den sitzungsfreien Wochen ist Manzewski in seinem Wahlkreis unterwegs. Für den über 1,85 Meter großen Mann Routine. Fünf Termine stehen an diesem „Bad-Doberan-Tag“ in seinem Kalender. Normalerweise gibt es auch jede Menge Abendveranstaltungen, aber die sind wegen des G8-Gipfels alle abgesagt. Seine Tagestermine muss er örtlich beschränken, denn sein Wahlkreis ist eineinhalb mal so groß wie das Saarland.
Die Verabredung mit Uwe Hübner ist für ihn ein so genannter „Kennenlerntermin“. Manzewski lässt sich die Firmengeschichte erzählen, fragt nach Ausbildungsplätzen und Problemen und schaut sich dabei interessiert im dem Bürocontainer mit der zweifarbigen Wohnzimmerschrankwand um. An der Wand hängen Urkunden über Freundschaftsspiele der Firma mit der örtlichen Feuerwehr. „Fußball ist immer gut“, sagt Manzewski und fügt hinzu: „Ich bin Mitglied des FC Bundestag“. Der Mann mit der Kurzhaarfrisur weiß, wie er das Eis zwischen sich und seinen Gesprächspartnern brechen kann. Während er kopfnickend zuhört, macht seine Mitarbeitern Sylvia Vogel Notizen. Heute lässt sie ihr Handy nicht aus den Augen. Sie wartet auf neue Informationen über den Zustand auf den Straßen. Eine ihrer Bekannten hat sich in den SMS-Verteiler der G8-Gegner aufnehmen lassen – so erfährt man schneller von Blockaden als durch die Hotlinenummer der Polizei.
Rostocker Stadthafen, 11.00 Uhr. Hier findet, organisiert von etwa 40 Nichtregierungsorganisationen und Initiativen von Attac über Greenpeace bis zu Misereor, seit gestern der Alternativgipfel der G8-Gegner statt. In mehr als 100 Workshops wollen die meist jungen Teilnehmer über verschiedene Themen diskutieren. Das Programm ist dabei ähnlich ambitioniert wie das des G8-Gipfels, der ein paar Kilometer weiter westlich stattfindet: Auf dem Plan stehen sowohl Armutsbekämpfung und Klimapolitik als auch globale Gerechtigkeit, Migration, Rassismus, Militarisierung sowie Arbeit und Soziales. Claudia Roth soll hier, auf der MS Stubnitz, gleich einen Workshop zum Thema „Flucht vor der Globalisierung“ moderieren.
An Deck des Schiffes trifft sie auf die Referenten des Workshops. Man kennt sich seit Jahren, der Umgang ist vertraut. Nach vielen Umarmungen hat die Runde ein Thema, das Claudia Roth schon auf dem Weg zum Hafen immer wieder beschäftigt hat. „Wie ist die Lage am Zaun? Ist es ruhig?“, will sie wissen. Und: „Was machen unsere?“ Unsere, das ist die „grüne Jugend“, die sich gerade rund um Heiligendamm am Protest gegen den Gipfel beteiligt – der, so die Hoffnung von Claudia Roth, friedlich und gewaltfrei bleibt. Dass die Großdemonstration genau das nicht war, macht Roth zu schaffen.
Sie sieht traurig aus, als sie darüber spricht, ihr Gesicht bekommt einen resignierten Zug. „Dieser Gewaltausbruch hat sich wie ein Schleier über die Stadt gelegt.“ Und: In den Berichten rund um den Gipfel dominierten nun die Bilder der Ausschreitungen – über die inhaltlichen Forderungen der Gipfelgegner und die Veranstaltungen des Alternativgipfels werde kaum gesprochen. Deshalb ist Roth nun besonders wichtig, dass die Lage am Zaun nicht eskaliert. „Wir brauchen keine Zaunstürmereien oder andere martialische Spielchen; für uns gilt es, eine bestimmte Politik zu überwinden und keinen Zaun.“
Bargeshagen, 11.10 Uhr. Die obligatorische Frage nach der Fahrt durch die G8-Zone ist beim nächsten Termin von Manschewski schnell beantwortet: Er ist gleich um die Ecke bei einer Firma für Sicherheitstechnik. Auch hier gibt es anfangs nur ein Thema, den Gipfel und die Sorge, dass die Gewalt, wie am vergangenen Samstag in Rostock, eskalieren könnte. Die Frage Manzewskis, ob der Betrieb denn ausbildet, wird jäh unterbrochen. Mindestens acht Hubschrauber kreisen donnernd über das Haus, einer im Tiefflug. Sie bringen die Staatsgäste vom Flughafen in Rostock nach Heiligendamm. „Der ist bewaffnet, da sind Raketen dran“, stellt einer der Gesprächspartner mit Kennerblick fest und schon ist man wieder beim Gipfelthema.
Ausnahmezustand in der Provinz. Was denn Manzewski als Richter außer Dienst von dem Eilverfahren und die Haftstrafe gegen einen Demonstranten halte, möchten sie von ihrem Abgeordneten wissen. „Ich fand das schnelle Verfahren in Ordnung“, sagt Manzewski und vergisst aber nicht, gleich auch noch die Demonstranten zu loben: „Ich fand es gut, dass sich viele von den gewaltfreien Demonstranten hinter die Polizei gestellt haben“, sagt er. Er weiß, dass das Bild, das von der Region bleiben wird, auch davon abhängt, wie sich hier die Demonstrationen entwickeln werden. Und er ist sich darüber bewusst, dass viele Menschen hier Angst haben. Schon seit Monaten wird er von besorgten Bürgern mit Fragen bestürmt: „Es herrschte eine große Unsicherheit, denn niemand wusste, was auf ihn zukommt“, sagt er. Unzählige Fragen von den Absperrmaßnahmen bis hin zu Vermietungsproblemen hat er gesammelt und weitergegeben. Denn der Jurist, der als Richter in Rostock gearbeitet hat, versucht zu helfen, wo er kann – nur eine Rechtsberatung wie ein Anwalt darf er dabei nicht machen. Aus der einstigen Euphorie, Heiligendamm und die Schönheit der Region in der ganzen Welt bekannt zu machen, ist Katzenjammer geworden, auch wenn Manzewski in den nicht so richtig einstimmen möchte. „Wir haben uns selbst dafür beworben“, sagt er, „aber das haben viele schon vergessen.“ Ob der Gipfel der Region einen echten Vorteil gebracht hat, scheint auch er in diesem Augenblick zu bezweifeln.
MS Stubnitz, 11.30 Uhr. Welche Politik in den Augen seiner Grünen-Kollegin Roth überwunden werden muss, wird bereits in den ersten Minuten des Workshops klar. In ihrer Einführung vor etwa 25 Zuhörern beschreibt sie eindringlich das Elend vieler Menschen, die aufgrund von Kriegen, Umweltkatastrophen oder auf der Suche nach einem besseren Leben auf der Flucht sind. Es seien „bittere Statistiken der Normalität“, die zeigten, dass in den Industriestaaten „Menschen auf der Flucht als Bedrohung wahrgenommen werden“.
Nach Roth sprechen Thomas Gebauer von medico international und Karl Kopp von pro asyl – sie hört ihnen mit großen Augen zu, nickt oft und macht sich Notizen. Dass, so Gebauer, 2,8 Milliarden Menschen von weniger als zwei Dollar am Tag leben müssen – „Das sind 40 Prozent der Weltbevölkerung!“ –, macht, so wenig neu und überraschend die Zahl ist, Roth noch immer sichtbar betroffen.
Dass sie tatsächlich körperliches Unbehagen empfindet, wenn Karl Kopp beschreibt, wie immer neue Waffen entwickelt werden, mit denen sich die reichen Staaten unliebsame Migranten vom Leib halten, ist unübersehbar. Überhaupt ist sie für die emotionale Komponente der Veranstaltung zuständig: Während Gebauer und Kopp harte Zahlen und Fakten referieren und dabei eher trocken-sachlich wirken, spiegelt Roths Gesicht jede Empfindung. Sie ist die, die davon spricht, dass Kindern durch Streumunition „Arme und Beine weggesprengt werden und die Überlebenden ihr Leben lang stigmatisiert sein werden“. Dass ihr dieser Gedanke weh tut, ist deutlich sichtbar.
Weniger betroffen, dafür aber spürbar sauer reagiert die 52-Jährige, als ihr in der anschließenden Diskussion von einem Pax-Christi-Vertreter vorgeworfen wird, sie versuche den Mythos aufzubauen, die Grünen verfolgten eine humane Flüchtlingspolitik – vielmehr habe die Partei „den Prozess der Militarisierung mitgetragen“. Ein anderer Diskussionsteilnehmer wirft ein, die Grünen seien mit ihrer Haltung „nah an Beckstein“. Das sei „ein Schmarrn“, faucht Roth, „jetzt hörts aber mal auf“. Dennoch ist sie durchaus selbstkritisch: Ihre Partei habe sich während der rot-grünen Regierungszeit „nicht genug durchsetzen können. Das ist natürlich immer eine Frage der realen Machtverhältnisse.“
Doch Roth muss nicht nur Kritik hinnehmen: Eine Gruppe Jugendlicher lädt sie herzlich für den Nachmittag ein, an einem „Demonstrationszug der Gebete“ teilzunehmen. Eine nette Idee, findet Roth, doch leider habe sie keine Zeit – erst müsse sie noch zu einem weiteren Workshop und dann gehe der Zug zum Evangelischen Kirchentag nach Köln, den dürfe sie nicht verpassen.
Bargeshagen, 12.30 Uhr. Als sich Manzewski noch über Verriegelungselemente, optische Rauchmeldegeräte und Thermomelder beugt, beschäftigt sich Sylvia Vogel bereits mit ganz realen Sicherheitsproblemen. Der dritte Gesprächspartner des Tages, ein Bauer, über dessen Felder der Sicherheitszaun verläuft, hat den Termin abgesagt. „Da braut sich was zusammen“, sagt sie. Demonstranten sollen die Kontrollstellen durchbrochen haben, einige seien sogar schon am Sicherheitszaun und die Polizei ist mit Wasserwerfern vor Ort , heißt es. Überhaupt gibt es unzählige Gerüchte, Geschichten und angebliche Augenzeugenberichte, aber abgesehen von einigen Polizeisirenen aus der Ferne, herrscht im Auge des Orkans idyllische Ruhe. Die behält auch Manzewski und beschließt, seinen Tag in Kühlungsborn, dem Hauptquartier der Journalisten, fortzusetzen. Auf holprigen Feldwegen und alten Alleen geht es vorbei an Mohnfeldern in sattem Rot, sanft hügeligen Rapsfeldern und dichten Wäldern. Nur ab und zu hebt sich vom Grün der Bäume das Grün eines einzelnen Polizeikombis ab, der Posten im Wald bezogen hat. Auf die Frage, wie denn die Lage vor Ort sei, antworten die hilfsbereiten Polizisten – mit bayerischem oder hessischen Zungenschlag – dass sie auch gerade nicht wüssten, ob man die nächste Kreuzung passieren könnte.
Rostocker Hafen, 13.30 Uhr. Nach der Veranstaltung ist Roth sichtlich erleichtert, „das war doch gut, oder?“ Die erste Frage an ihren Pressesprecher ist „Wie ist die Lage? Was machen unsere?“ Bei „unseren“ läuft alles gut, antwortet der, doch es gebe Berichte, Demonstranten hätten die Absperrungen durchbrochen und seien am Zaun. Lange darüber nachdenken kann Roth nicht. Auf dem Deck warten schon zwei Journalisten, denen sie in den Block diktiert, die weiteren Demonstrationen müssten „unbedingt gewaltfrei sein“, und dann geht es schon wieder weiter zum nächsten Termin.
Doch während die drei BKA-Beamten und Roths Mitarbeiter sich auf den Weg zum Auto machen, stoppt die Chefin plötzlich jäh ab und fällt quietschend einem Mann um den Hals. „Das ist der Martin, der Keyboarder von Ton Steine Scherben. Ach Mensch, dass ich dich hier treffe.“ Zeitplan hin oder her – Roth muss jetzt erst einmal mit Martin von der linken Kultband, deren Managerin sie einst war, hinter die Bühne, zum Rest der Band. „Das ist meine family, das muss jetzt sein.“
Roths Mitarbeiter sehen die Unterbrechung gelassen, die BKA-Beamtin gönnt sich erstmal eine Bratwurst. Nach ein paar Minuten ist Roth wieder da, mit Tränen in den Augen. „Der Matthias“ sei mal ihr Lebenspartner gewesen, den zu treffen, sei immer etwas ganz Besonderes.
Kurz vor Kühlungsborn, 13.40 Uhr. An der immer wieder blockierten Bundesstraße 105, blitzt auch bei Manzewski ein bisschen Abenteuerlust auf: „Jetzt kommen wir in die Höhle des Löwen“, sagt er, aber auch hier lässt sich gerade kein einziger Demonstrant erspähen. Zehn Krankenwagen mit Martinshorn sind das Spektakulärste, was es zu bestaunen gibt.
Auch wenn das Straßenschild nach Kühlungsborn mit orangefarbenem Klebeband durchgestrichen ist, erreicht der Abgeordnete den Badeort ohne Probleme. Kurz vor der Hochsaison erinnert der Ort mit seinen 12.000 Betten an einigen Straßenzügen eher an eine verlassene Westernstadt: kaum parkende Autos, keine Tische und Stühle auf den Straßen und leere Strandkörbe. Nur die gelben Mülltonnen stehen fast schon trotzig auf den Straßen, wie um zu dokumentieren, dass heute eigentlich ein ganz normaler Werktag ist.
Alltag ist für Dirk Manzewski auch sein vierter Termin an diesem Tag: die Besichtigung eines neuen Gästehauses direkt an der Strandpromenade. Der Tourismus ist die Haupteinnahmequelle in der Region und stolz berichtet er, dass die Arbeitslosigkeit in diesem Kreis lediglich bei 12,7 Prozent liege. Nachdem mit den Besitzern selbstverständlich auch hier die Reiseerlebnisse erörtert worden sind, besichtigt der Abgeordnete das Hotel und lässt sich alles über die Erdwärmeheizung und die derzeitige Stimmung berichten. „Die Leute sind wütend, weil sie Angst haben“, meint Jörg Koppmann, der Besitzer der „Villa Senta“. Doch trotz der ausgebliebenen Touristen, sind in Kühlungsborn viele Zimmer vermietet.
Wie ein Heuschreckenschwarm sind sie hier innerhalb weniger Tagen eingefallen: 5.000 Journalisten, die jetzt aus sicherer Entfernung das Geschehen in Heiligendamm beobachten. Wer allerdings keinen Sonderausweis für den G8-Tagungsort hat, kann sich das Geschehen wenigstens für 1 Euro mit dem Fernglas von der Seebrücke aus anschauen.
Rostock, Nicolaikirche, 14.30. Auf dem Weg zur Kirche überprüft Claudia Roth zum etwa 1.000. Mal an diesem Tag ihr Handy und checkt den Organizer auf neue Nachrichten. Und stellt, wie so oft an diesem Tag, Jens Althoff die Frage: „Und? Was machen unsere?“ Der Pressesprecher ist besorgt, es habe Meldungen gegeben, am Zaun sei die Lage eskaliert und es hätten verletzte Polizeibeamte ausgeflogen werden müssen. Doch wieder bleibt nicht viel Zeit, der Sache nachzugehen – und Claudia Roth hat geraden den Kopf nicht frei. Immerhin gab es Aufrufe, ihre Veranstaltung zu stören, das macht nervös. „Schau’n mer mal, wie’s läuft.“
Vor der Kirche warten schon die Referenten des Workshops „Aufrüstung verhindern“, den die Grünen-Vorsitzende gleich moderieren wird. Schnell gibt sie ein Interview, unterschreibt einen Aufruf gegen Landminen, lächelt für ein Foto und eilt dann in das Gebäude.
Drinnen ist von Randale keine Spur, Roth schaut in entspannte Gesichter. Den Vorträgen von Oliver Meier vom Hamburger Institut für Friedensforschung und Thomas Küchenmeister vom Aktionsbündnis Landmine.de hört sie konzentriert zu, macht sich viele Notizen. Wieder ist Claudia Roth anzusehen, dass der Gedanke an Landminen, die wie Schmetterlinge aussehen und extra für Kinder konzipiert sind, ihr Unbehagen bereitet – und wieder gibt sich die Grünen-Chefin selbstkritisch. Streumunition „gehört geächtet, das sind Terrorwaffen. Das ist bislang noch nicht gelungen. Wir müssen an der Stelle den zivilgesellschaftlichen Druck erhöhen“. Roth redet sich in Rage, als sie darüber spricht, dass die Bundesregierung in dieser Sache „eine andere Logik“ hat und „in zynischer Weise zwischen ungefährlicher und gefährlicher Streumunition unterscheidet. Das muss mir erstmal jemand erklären.“
Doch für eine ausführliche Diskussion mit den gut informierten Teilnehmern der Runde bleibt keine Zeit mehr. Roth gibt noch schnell ein Interview, dann eilt sie in das bereitstehende Auto. Sie muss ins Hotel, den Koffer holen, und dann zum Zug nach Köln.
Für den Weg hat sie sich „einen Riesenstapel Unterlagen“ mitgenommen, um für die nächsten Termine vorbereitet zu sein. Gegessen hat sie den ganzen Tag lang nichts, „das mache ich vielleicht im Zug“. Wenn sie nicht mit ihrem Handy telefoniert. Und abfragt „Was machen unsere?“
Kühlungsborn, 15.00 Uhr. Für schöne Ausblicke in Richtung des Tagungshotels Heiligendamm hat Manzewski an diesem Tag keine Zeit. Trotz der unsicheren Lage will er am nächsten Termin festhalten. „Heute muss man Entscheidungen treffen“, sagt er und sitzt schon wieder in seinem japanischen Kleinwagen in Richtung Bad Doberan. Plötzlich muss der Wagen stoppen. In der Ferne sieht man eine Polizeisperre und Demonstranten. „Die üben ihre Meinungsfreiheit aus“, sagt Manzewski „aber ich kapiere nicht, wie man da Gewalt reinbringen kann.“ Und schon ist er wieder auf dem nächsten Feldweg.
In Bad Doberan bleibt das erwartete Chaos aus. Der Servicepunkt der Demonstranten auf einem Platz in der Innenstadt ist nur schwach besetzt. Nur ein paar vereinzelte Protestler saßen mit einem Bier oder Kaffee in der Hand unter den schattigen Bäumen. In der Hauptstraße sind die meisten Geschäfte mit Sperrholzplatten verrammelt. Langsam trauen sich die Ladenbesitzer wieder vor die Tür, aber es kommen sowieso fast keine Kunden.
Auch die Falken, ein der SPD nahestehender Kinder - und Jugendverband, hatte ein wenig Angst um sein Büro im Hinterhof. Dirk Manzewski kennt die Jugendlichen, die sich ehrenamtlich um ein Ferienlager für benachteiligte Kinder und Jugendliche kümmern, schon länger. Henning, Mattes und Anna sitzen gespannt vor ihren Laptops und durchforsten das Netz nach Neuigkeiten über die Blockade. Hier sieht auch Dirk Manzewski das erste Mal an diesem Tag, wie es nur wenige Kilometer entfernt aussieht – ein Bild von vielen. Und auch hier erzählt erstmal jeder, wie er wo durchgekommen ist, was er selbst von den Demonstranten gesehen oder auch nur von Nachbarn und Freunden gehört hat. Dirk Manzewski, der den ganzen Tag einen dunkelgrauen Anzug mit modischer Krawatte getragen hat, ist froh, sein Sakko ausziehen zu können. Man merkt, dass er sich hier zuhause fühlt.
Für die Jugendlichen ist er fast ein wenig wie der große Bruder, dem sie viele Fragen stellen können. Politisch interessierte Jugendliche sind in Manzewskis Wahlkreis in der Minderheit. Alle Parteien haben hier Nachwuchssorgen. „Es ist ein Problem, dass sich so wenige für Politik interessieren“, sagt er. Er verschwindet kurz, um sich ein Bild von der Stadt zu machen.
Vom einzig geöffneten Bäcker bringt er für alle Erdbeerkuchen mit. Der erste Tag des Heiligendammer G8-Gipfels geht langsam zu Ende. Manzewski wirft noch einen letzten Blick auf den Newsticker der Polizei. Der meldet: „Heiligendamm, 17 Uhr 11: Sitzblockade 3.000 Meter vor der Rennbahn circa 6.000 bis 7.000 Teilnehmer, Lage ruhig.“ Einige Demonstranten kommen schon zurück. „Gleich ist Fußball“, sagt einer der Jugendlichen.
Der Artikel ist eine Vorab-Veröffentlichung der Ausgabe
24/2007 der Wochenzeitung "Das Parlament".