Deutschlands Bürger reden mit
In der Debatte zum Jahresbericht 2005 des Petitionsausschusses erklärt die Ausschussvorsitzende, Kersten Naumann, MdB:
Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren,
Seit nunmehr 57 Jahren ist der Petitionsausschuss die zentrale Einrichtung unseres Parlaments für die Behandlung aller an den Deutschen Bundestag gerichteten Petitionen, Bitten und Beschwerden. Und das Jahr 2005 war in diesen 57 Jahren mit 22144 Einzelpetitionen ein Rekordjahr. Diese Zahl der Neueingänge wurde bisher nur ein einziges Mal im Jahr 1992 übertroffen.
Was signalisiert uns diese anhaltend hohe und steigende Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an dieser Form der direkten Demokratie?
Erstens: Das Bild vom Petitionsausschuss als dem „Seismografen der Nation“ wird bekräftigt, und er funktioniert;
Zweitens: Das Vertrauen in unser Parlament und den Petitionsausschuss als letzte Instanz, etwas über den politischen Weg ändern zu wollen, besteht bei der Bevölkerung - und
drittens: gibt es für die Bürgerinnen und Bürger genügend ungelöste oder unzureichend gelöste Probleme, die der Erledigung harren.
Wie weit der Bogen der uns erreichenden Eingaben gespannt ist, zeigen die Einzelfälle, die wir im schriftlichen Bericht veröffentlicht haben. Der Bericht gibt aber nicht nur Auskunft über positiv erledigte Einzelfälle wie beim Unterhaltsrecht, bei Visaerteilungen, beim Erhalt von Postagenturen und vielen anderen. Die meisten Schicksale sind unbenannt in Zahlen zusammengefasst. Ein deutlicher Schwerpunkt – wie bisher jedes Jahr anhaltend hoch und konstant - liegt im Bereich des Bundesministeriums für Gesundheit und soziale Sicherung mit allein fast 8000 Petitionen. Das sind fast ein Drittel aller neu zugegangenen Petitionen. Kein Wunder, denn die soziale Sicherung und Gesundheit sind das A und O im Leben eines jeden Menschen. Dazu hier nur ein Beispiel:
Ein Problem, das immer mehr Menschen bedrückt, ist der Verlust des Krankenversicherungsschutzes. Insgesamt dürften zwischenzeitlich ungefähr 300.000 Menschen betroffen sein. An den Petitionsausschuss wurde daher häufig das Anliegen herangetragen, für einen bezahlbaren Krankenversicherungsschutz zu sorgen. Aber bei der bestehenden Rechtslage kann in der Regel nicht weitergeholfen werden. Deshalb sieht der Petitionsausschuss hier dringenden Reformbedarf und hat dem Bundesministerium für Gesundheit zahlreiche Petitionen als Material und den Fraktionen zur Kenntnis übergeben. Damit liegt die Initiative hier im Parlament bei den Fraktionen und wir hoffen, dass sie davon auch Gebrauch machen.
Auch bei anderen Sachgebieten ist ein deutlicher Zuwachs zu verzeichnen. Dies betrifft u.a. das Staats- und Verfassungsrecht. Mehr als Tausend Petitionen sind hier zum Vorjahresniveau hinzugekommen. Rund 3700 Petitionen gingen allein an das Bundesministerium des Inneren – das ist mehr als doppelt soviel wie 2004. Änderungen in der Visaerteilung, im Ausländer-, Aufenthalts-, Integrations- und Asylverfahrensgesetz haben hier ihre Auswirkungen gezeigt. Die Anzahl der Petitionen bei Arbeitsrecht, Arbeitsvermittlung, Sozialversicherung und Kinderbeihilfen sind anhaltend hoch und stiegen ebenfalls in den Neueingängen.
Ich denke, das sollte dem Parlament und den Fraktionen zu denken geben, denn jede Petition muss für die Abgeordneten eine hilfreiche Kontrollanregung gegenüber der Regierung sein. Zunehmend nutzen die Bürgerinnen und Bürger das Petitionsrecht also auch, um das Parlament auf Lücken und Härten in der Gesetzgebung oder Missstände im Verwaltungshandeln hinzuweisen. Das wird ganz besonders deutlich in so genannten Massenpetitionen, in denen viele Menschen gemeinschaftlich ein Anliegen vorbringen bzw. in Sammelpetitionen, in denen die Eingaben mit Unterschriftslisten versehen sind. Über 450.000 Menschen haben sich im Berichtsjahr einzeln oder in Gemeinschaft an den Petitionsausschuss gewandt.
Das ist wahrlich eine beeindruckende Zahl von Rückmeldungen aus der Bevölkerung. Je mehr „Rückmeldungen“ wir bekommen, desto besser sind unsere Möglichkeiten, Schwachstellen zu erkennen und die sollten alle Abgeordneten versuchen abzustellen.
Um in dieser Hinsicht noch näher am Puls der Zeit zu sein, wurde im letzten Jahr ein entscheidender Schritt beim Einstieg in das Zeitalter des e- Parlaments gemacht. Das ist zum einen die Möglichkeit Petitionen per E-Mail durch Nutzung eines Internet-Formulars einzureichen. Etwa 10% unserer Eingaben kommen bereits per E-Mail. Zum anderen besteht die Möglichkeit seit dem 1. September 2005 in einem auf zwei Jahre angelegten Modellversuch für jeden Interessenten Petitionen öffentlich im Internet mitzuzeichnen und damit zu unterstützen oder auch zu kommentieren. Die Anträge für eine solche Öffentliche Petition, die von allgemeinem Interesse sein müssen, sind ebenfalls im Internet zu finden.
Der Petitionsausschuss führte somit auch ein Stück mehr Transparenz in die Bearbeitung von Petitionen ein, da die Bearbeitungsstände im Internet einsehbar sind und – das Einverständnis aller Fraktionen vorausgesetzt – kann der Petitionsausschuss eine öffentliche Beratung derartiger Eingaben vorsehen. Noch in diesem Jahr wird eine erste öffentliche Beratung stattfinden. Bis heute wurden über 200 Eingaben als öffentliche Petitionen zugelassen und von insgesamt rund 300.000 Bürgerinnen und Bürgern mitgezeichnet. Weitere 15.000 Kommentare aus der Bevölkerung geben wichtige Hinweise zu den einzelnen Themen der veröffentlichten Eingaben. Damit wird der Ausschuss in die Lage versetzt, noch qualifizierter Empfehlungen gegenüber dem Plenum des Deutschen Bundestages abzugeben. Ich gehe davon aus, dass uns eine dritte Neuerung, die auf eine Stärkung von Elementen der direkten Demokratie zielt noch mehr Erkenntnisse bei der Bearbeitung der Petitionen bringen wird. Dabei handelt es sich um eine weitere Änderung der Verfahrensgrundsätze des Petitionsausschusses. Es wurde festgelegt, dass bei Sammel- oder Massenpetitionen, die innerhalb von 3 Wochen ein Quorum von 50.000 Unterstützern erreichten, eine Anhörung des oder mehrerer Petenten in öffentlicher Ausschusssitzung zu erfolgen hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer wissen möchte, womit wir uns im Bereich der öffentlichen Petitionen beschäftigen, dem kann ich nur den Besuch der Internetseite des Petitionsausschusses empfehlen. Sie werden erkennen, dass die Themenvielfalt überraschend groß ist.
Damit haben sich auch unsere Möglichkeiten verbessert, unseren Auftrag zu erfüllen und unsere Arbeit transparenter zu machen. Daher wäre es im Interesse der Sache sehr wünschenswert, wenn wir aus unserem Modellversuch „öffentliche Petitionen“ eine dauerhafte Einrichtung machen könnten.
Meine Damen und Herren, der Petitionsausschuss konnte im Berichtszeitraum in der Hälfte aller Fälle dem Begehren der Petenten helfen. In einem Drittel aller abgeschlossenen Fälle ist dem Petenten mit einem Rat oder einer Auskunft geholfen worden. In ca. 5% der Fälle hat bereits das Einreichen einer Petition eine veränderte Haltung der Verwaltung bewirkt, dem Anliegen konnte sofort durch die Behörde abgeholfen werden. Bei weiteren 3% der Fälle hat der Petitionsausschuss dem Anliegen des Petenten durch ein entsprechendes Votum abgeholfen. Förmliche Bitten an die Bundesregierung, einem Petitionsbegehren in vollem Umfang abzuhelfen sind nur relativ selten ausgesprochen worden. Im Jahr 2005 wurden sechs Petitionen von über 16.000 bearbeiteten Petitionen an die Bundesregierung zur Berücksichtigung überwiesen. In 39 Fällen wurden die Petitionen an die Bundesregierung mit der Maßgabe, nach geeigneten Mitteln und Möglichkeiten der Abhilfe zu sorgen, zur Erwägung überwiesen. Viele Beispiele aus der Praxis bekräftigen, dass die Arbeit des Petitionsausschusses nicht selten da anfängt, wo die Gerichte und Verwaltungen den Betroffenen nicht helfen können.
Um nicht missverstanden zu werden: Auch der Petitionsausschuss kann sich nicht über das geltende Recht hinwegsetzen. Seine Entscheidungen besitzen Empfehlungs- und kein Weisungscharakter.
Häufig geht es aber darum, Sachverhalte in einen größeren Zusammenhang zu setzen und teilweise mit Phantasie und Fingerspitzengefühl andere Lösungswege für den Petenten zu finden, die seinen Vorstellungen zumindest nahe kommen. Vor allem aber bieten solche Fälle häufig Material für Vorschläge zur Gesetzgebung, weil sie Schwachstellen bestehender Regelungen aufzeigen. Nicht von ungefähr wurden in 163 Fällen Petitionen zur Kenntnis an die Fraktionen übergeben.
Meine Damen und Herren, das Grundgesetz und das Befugnisgesetz räumen uns als Petitionsausschuss einige Möglichkeiten der Gestaltung unserer Arbeit ein. Eine Möglichkeit ist z.B. Ortstermine durchzuführen, um sich ein Bild vom Sachstand einer Petition zu machen. Davon haben Mitglieder des Ausschusses im vergangenen Jahr zweimal Gebrauch gemacht.
Gestatten Sie mir, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, an dieser Stelle eine persönliche Bewertung der Arbeit im Petitionsausschuss. In Gesprächen mit den Mitgliedern des Petitionsausschusses habe ich immer wieder gehört, dass die dort gemachten Erfahrungen für die Arbeit als Abgeordnete sehr hilfreich sind. Dies ist umso wichtiger zu betonen, da das Engagement und die kompetente, engagierte und ideenreiche Arbeit der einzelnen Abgeordneten in einem Ausschuss wie dem Petitionsausschuss oftmals nicht die gebührende Anerkennung in den Fraktionen erhält.
Doch gerade in der täglichen Arbeit des Petitionsausschusses begreifen sich die Abgeordneten als Vertreterinnen und Vertreter des Volkes, können sie doch unmittelbar für die Belange Einzelner eintreten. Ich würde mir wünschen, dass dies so bleibt.Denn mit -andauernd hoher Arbeitslosigkeit, -sozialen Verwerfungen und -globalen, strukturellen Verflechtungen wie sie uns in den nach wie vor zahlreichen Eingaben kundgetan werden, wachsen die Herausforderungen. Deshalb sind wir aufgerufen täglich nach tragfähigen, nachhaltigen Lösungen zu suchen.
Werte Kolleginnen und Kollegen, nicht vergessen möchte ich einen besonderen Dank an die Mit- und Sachbearbeiter des Petitionsausschussdienstes der Bundestagsverwaltung zu richten. Nur mit ihrem unermüdlichen Einsatzes und einer stets kollegialen Zusammenarbeit mit den Ausschussmitgliedern konnte die steigende Zahl der Anfragen, Bitten und Beschwerden bearbeitet werden und dies bei gleich bleibender bzw. zeitweilig verminderter Arbeitskapazität.
Ich möchte mich aber auch als Vorsitzende bei meinen Ausschusskolleginnen und –kollegen aller Fraktionen bedanken. Das vergangene Jahr war für mich lehrreich, spannend und in jeder Hinsicht reich an Erfahrungen. Ich wünsche mir für die kommenden Jahre weiterhin eine bürgernahe, konstruktive und sachliche Zusammenarbeit im Sinne der Petentinnen und Petenten und werde dazu meinen Beitrag leisten.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Herausgeber
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