Fritsche: Im Jahr 2006 "Abwägungsentscheidung" zugunsten von Kurnaz
Berlin: (hib/KOS) Aus Sicht Klaus-Dieter Fritsches, des Geheimdienstkoordinators im Kanzleramt, lagen im Herbst 2002 "tatsächliche Anhaltspunkte" vor, die eine Einstufung von Murat Kurnaz als mögliches Sicherheitsrisiko rechtfertigten. Zumindest habe es, so der damalige Vizepräsident des Bundesamts für Verfassungsschutz am Donnerstag vor dem Untersuchungsausschuss, Hinweise auf extremistische Aktivitäten des in Bremen aufgewachsenen Türken gegeben. Dabei sei seinerzeit auch ein Terrorismusverdacht nicht ausgeräumt gewesen. Mit dieser "Prognosebewertung", die Ende Oktober 2002 die Spitzen der Geheimdienste und mehreren Staatssekretären unter Leitung des Kanzleramtschefs und heutigen Außenministers Frank-Walter Steinmeier (SPD) getroffen wurde, habe die Freilassung von Kurnaz aus Guantanamo nicht verhindert werden sollen. Vielmehr sei es nur darum gegangen, dessen Einreise nach Deutschland abzuwehren und stattdessen für eine Überstellung in die Türkei zu plädieren. Der offenkundig fälschlicherweise unter Terrorverdacht geratene Bremer Türke war Ende 2001 in Pakistan festgenommen und dann über Afghanistan zu dem US-Gefangenenlager auf Kuba gebracht worden, wo er bis zu seiner von Kanzlerin Angela Merkel erwirkten Entlassung im August 2006 einsaß.
Auf eine entsprechende Frage Michael Hartmanns (SPD), des Vize-Vorsitzenden des Ausschusses, bezeichnete Fritsche den Beschluss in der Zeit des Jahreswechsels 2005/2006, Kurnaz entgegen dessen früherer Einordnung als Gefährder doch wieder in die Bundesrepublik kommen zu lassen, als "Abwägungsentscheidung". Angesichts der kritischen Diskussion in Deutschland und in den USA über Guantanamo hätten humanitäre Aspekte gegenüber Sicherheitsbedenken an Gewicht gewonnen. Zudem habe im November 2005 das Verwaltungsgericht Bremen befunden, dass Kurnaz ein Anrecht auf Rückkehr nach Deutschland habe. Die Einstufung von Kurnaz als potentielles Sicherheitsrisiko habe, so Fritsche, weiterhin gegolten und bestehe im Übrigen nach wie vor. Vor dem Auftritt des Geheimdienstkoordinators hatte Bernhard Falk ausgeführt, dass die Beurteilung Guantanamos 2005 eine andere als 2002 gewesen sei. Da das US-Gefangenenlager den hiesigen rechtsstaatlichen Grundsätzen widerspreche, so der Vizepräsident des Bundeskriminalamts (BKA), könne man auch den Verbleib eines Gefährders in einer solchen Einrichtung nicht rechtfertigen.
Laut Fritsche stützte sich 2002 die Einschätzung des jungen Türken als eines potentiellen Sicherheitsrisikos auf mehrere Erkenntnisse und Quellen von Polizei und Geheimdiensten. So habe Kurnaz etwa Kontakt zu zwei extremistischen Organisationen unterhalten, auch seien bei ihm Parallelen zu Biographien anderer Islamisten mit Radikalisierungstendenzen erkennbar gewesen. Eine Rolle bei der Einordnung des Bremers hätten auch die vom Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) der Hansestadt gesammelten Informationen gespielt. Auf eine entsprechende Frage Hartmanns sagte Fritsche, ihm persönlich sei 2002 nicht bekannt gewesen, dass diese LfV-Erkenntnisse nicht bestätigt gewesen seien und deshalb nicht hätten bewertet werden können.
Laut Falk gingen die Sicherheitsbehörden damals davon aus, dass Kurnaz nicht allein aus religiösen Gründen nach Pakistan gereist sei, sondern in Afghanistan habe kämpfen wollen. Zahlreiche Erfahrungen hätten gezeigt, so der BKA-Vizepräsident, dass von islamistischen Rückkehrern aus solchen Kampfgebieten in vielen Fällen eine erhebliche Gefährdung ausgehe. Auch das Urteil von BND-Mitarbeitern nach einem Verhör von Kurnaz auf Guantanamo, dass der Türke mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht gefährlich sei, habe vor fünf Jahren an dessen Einschätzung als Sicherheitsrisiko nichts geändert.
Aus Sicht Thomas Oppermanns bestätigen die Zeugenvernehmungen im Ausschuss zunehmend, dass die von der Regierung im Jahr 2002 vorgenommene Einordnung von Kurnaz als Gefährder gerechtfertigt war. Für den SPD-Obmann ist das "Anschuldigungsgebäude gegen Frank-Walter Steinmeier", der für den 29. März als Zeuge geladen ist, "bereits vollständig zusammengebrochen". Die Oppositionsabgeordneten hingegen betonten, dass dem Bremer Türken im Herbst 2002 eine Einreise nach einer damals im Raum stehenden Freilassung auf einer nur dünnen Verdachtsbasis verwehrt worden sei. "Annahmen, Spekulationen und windige Gerüchte", so Wolfgang Nescovic (Linkspartei), seien zum Anlass für "weitreichende Entscheidungen mit gravierenden Konsequenzen" für den Betroffenen genommen worden. Eine Reise nach Pakistan könne für sich keinen Verdacht begründen, zumal Kurnaz in dem Land keine Kontakte zu Taliban- und Al-Qaida-Strukturen aufgenommen habe und auch nicht in Afghanistan habe kämpfen wollen.
Nach dem Auftritt Fritsches wollte der Ausschuss noch mehrere Zeugen vernehmen, u.a. den Bremer Innensenator Thomas Röwekamp (CDU).
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