Dass die Hamburger immer wieder für Überraschungen gut sind, ist bekannt: Jetzt haben sie sich per Volksentscheid selbst ein neues Wahlrecht gegeben und damit Demokratiegeschichte geschrieben. Die Bürger der Elbmetropole votierten am 13. Juni mit deutlicher Mehrheit (66,5 Prozent Ja-Stimmen) für den Gesetzentwurf der Volksinitiative "Mehr Demokratie", der die politische Landschaft der Hansestadt revolutioniert. Denn der Einfluss der Parteien auf die Zusammensetzung des Landesparlaments ist ab sofort stark einschränkt, weil kein Kandidat (wie weit oben er auf der Landesliste seiner Partei auch immer platziert sein mag) künftig mit Sicherheit davon ausgehen kann, dass er auch tatsächlich in die Bürgerschaft einzieht. Was beim nächsten Urnengang in der Hansestadt (voraussichtlich 2008) alleine zählt, das ist das Kriterium, wie viele Stimmen jeder einzelner Kandidat auf den nun offenen Landeslisten der Parteien tatsächlich erhalten hat.
Was ändert sich ganz konkret? Von den 121 Abgeordneten der Bürgerschaft werden 71 als Direktkandidaten aus 17 Wahlkreisen gewählt, die übrigen Abgeordneten über Landeslisten der Parteien ins Parlament entsandt. Jeder Wahlberechtigte hat fünf Stimmen für die Direktkandidaten und fünf weitere für die Landeslisten. Dabei kann er sich beliebig einzelne Kandidaten herauspicken und sie gezielt unterstützten (Kumulieren) oder auf verschiedene Bewerber, auch parteiübergreifend, verteilen (Panaschieren).
Das Verhältniswahlrecht wird jedoch nicht angetastet. Denn es bleibt dabei, dass die Gesamtzahl der Sitze einer Partei davon abhängt, wie viele Stimmen sie in der Stadt im Verhältnis zu anderen einsammeln konnte. Profitieren werden von dieser Systemveränderung vor allem kleinere Parteien wie die FDP, deren Bewerber nicht mehr auf die Fünf-Prozent-Hürde angewiesen sind, sondern als Direktkandidaten ihrer Wahlkreise bei ausreichend vielen Stimmen ins Parlament einziehen dürfen.
Für die Initiatoren vom Verein "Mehr Bürgerrechte", den 59-jährigen Landwirt Manfred Brandt und die Journalistin Angelika Gardiner (62), ist der Ausgang der Abstimmung ein riesiger Erfolg und das glückliche Ende einer jahrelangen Odyssee. 256.507 Ja-Stimmen hat ihr Vorschlag erhalten, rund 14.000 mehr als notwendig. Sie interpretieren das neue, in Deutschland bisher nur auf kommunaler Ebene bekannte Wahlrecht als "Sieg für die Demokratie".
Ganz anders dagegen die Stimmung bei Bernd Reinert und Michael Neumann, den Fraktionsvorsitzenden von CDU und SPD, deren Parteien bis zuletzt mit Plakaten, Anzeigen und Wählerbriefen dazu aufgerufen hatten, nicht dem Vorschlag der Initiative, sondern einem Gegenentwurf der Bürgerschaft zuzustimmen, der sich am Bundestagswahlrecht mit zwei Stimmen und geschlossenen Listen orientiert hatte. Doch nur 197.524 Hamburger fanden dieses Modell besser - eine klare Minderheit. Man müsse das Ergebnis akzeptieren, hieß es von beiden dazu knapp. Spannend bleibt, wie die Hamburger in Zukunft mit gigantisch großen Wahlzetteln zu Recht kommen. Die Gegner des neuen Systems prophezeien bereits viele ungültige Stimmen. Und weil das Auszählungsverfahren viel längern dauern wird, rechnen Experten damit, dass es an Wahlabenden in Hamburg allenfalls eine Prognose über den Ausgang zu verkünden gibt - aber keine zulässigen Hochrechnungen mehr, geschweige denn ein vorläufiges amtliches Endergebnis.