Am 8. Juli vollendet der in Solingen geborene frühere Bundespräsident (1974 bis 1979) Walter Scheel, ehemaliger Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Außenminister und Vizekanzler der sozialliberalen Koalition von 1969 - 1974 mit Bundeskanzler Willy Brandt und von 1968 - 1974 Bundesvorsitzender der FDP sein 85. Lebensjahr. Nach wie vor nimmt er am politischen und gesellschaftlichen Leben in München und Berlin lebhaft teil, zuletzt konnte man ihn in Berlin erleben, wie er zusammen mit Bundespräsident Johannes Rau sein Lebensbuch der "Erinnerungen und Einsichten" vorstellte. Man sah ihn auf dem Empfang zum 80. Geburtstag von Rainer Barzel in München und hörte seine temperamentvolle Rede auf dem jüngsten FDP-Bundesparteitag in Dresden.
Mit Walter Scheel werden solche Bilder und Vorurteile verbunden: Rheinische Frohnatur, Bruder Lustig, Ritter wider den tierischen Ernst. Ein Herr, der den Deutschen Lebensart vorlebte, bevor sie modern wurde, der "Hoch auf dem gelben Wagen" sang und für manche nicht nur deshalb ein "Leichtfuß" war. Aber das ist nur die eine Seite des Walter Scheel. Eher wird ihm der von Hans-Dietrich Genscher geprägte Begriff der "Heiterkeit und Härte" gerecht. Oder sein bergischer Landsmann Johannes Rau, der den eleganten Vorgänger auf einem "festen Fundament" stehen sieht. Diese Festigkeit hat mit Scheels Vorfahren zu tun: Bauern und Handwerker, der Vater war Stellmacher. Ihm war der Höhenflug zwischen Solingen, Bonn, München und Berlin nicht in die Wiege gesungen worden. Scheel hat in seinem Leben Todesgefahren überstanden: als Nachtjäger bei der Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg und in Krankheiten, deren Schmerzen sich der stets diszipliniert auftretende Mann nicht anmerken ließ.
Als politischer Bundespräsident verkörperte er in der Nachfolge von Gustav Heinemann (SPD) die Koalition seiner Partei mit der SPD, war diesem aber kein willfähriger "sozialliberaler" Koalitionspartner. Rechtzeitig fühlte er die Veränderungen der Mehrheitsverhältnisse in der Bundesrepublik und förderte die Rückkehr der Union in die Regierungsverantwortung mit Helmut Kohl auf seine Weise, verzichtete angesichts der "obwaltenden Umstände", also dem Verlust der Mehrheit von SPD und FDP in der Bundesversammlung, auf eine abermalige Kandidatur. Lächelnd nahm er dafür den Spitznamen "Obwalter" in Kauf.
Manche seiner Reden sollte man nachlesen. Sie wirken über den Tag hinaus. Schon damals sah Scheel die "seelischen Temperaturen" unter den Deutschen sinken und empfand dies zutreffend als "Politikum". Er vermisste "Gesamtbilder" in der Politik, beklagte also mit Recht, was jetzt auch Johannes Rau bei seinem Abschied im Park der Villa Hammerschmidt in Bonn sagte: Man müsse als Regierung zuerst "Orientierung geben", bevor man die sich oft widersprechenden Einzelheiten der Reformpolitik veröffentliche. Unvergessen bleibt seine leidenschaftliche Rede zur Abwehr des Misstrauensvotums von Rainer Barzel gegen Willy Brandt am 27. April 1972 im Deutschen Bundestag. Sie war nicht zuletzt eine Rede für die Existenzberechtigung der FDP. Scheel mischt sich durchaus mehr, als es Johannes Rau mit der SPD vorhat, als Ehrenvorsitzender in das Parteileben der FDP ein; beispielsweise indem er in Dresden dem Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Gerhardt gegenüber Parteichef Guido Westerwelle den Rücken stärkte.
Soeben sind Scheels "Erinnerungen und Einsichten" (Hohenheim Verlag Stuttgart) mit einem Essay von Arnulf Baring erschienen. Baring, der Geschichtsschreiber des "Machtwechsels" 1969 in Bonn, meint, dass man Scheel "geradezu als Mr. Bundesrepublik" bezeichnen könnte. Scheel hatte Baring in die Villa Hammerschmidt eingeladen, wo der Historiker sein Standardwerk über den Beginn der SPD-FDP-Regierung im Jahr 1969 geschrieben hat. Als Scheels jüngstes Buch im Gästehaus des Auswärtigen Amtes von Johannes Rau vorgestellt wurde, hatte sich ein kleines Pantheon der Geschichte der Bundesrepublik versammelt, darunter Richard von Weizsäcker, Hans-Dietrich Genscher und Egon Bahr. Scheel bescheinigte in seinem Dank an Johannes Rau, dass er die immer wiederkehrende Machtfrage "bei zunehmender Zustimmung der Deutschen "richtig beantwortet habe: "Der Bundespräsident hat keine Macht, aber viel Einfluss." Das war auch ein kleines Selbstportrait. Noch lieber als Baring zitierte Scheel jedoch Hans-Dietrich Genscher, weil der durch den Vergleich mit dem "Hans im Glück" seinem Wesen noch näher kommt: "Aber nichts ist ihm einfach zugeflogen. Sein Glück war das Ergebnis von wacher Intelligenz, Voraussicht, Mut und Verantwortung."
Walter Scheel ist in dritter Ehe mit der früheren Krankengymnastin Barbara Wiese verheiratet. In der öffentlichen Erinnerung unvergessen ist seine 1985 an Krebs gestorbene zweite Frau Mildred, geborene Wirtz, die 1974 die Krebshilfe gegründet hatte.
Walter Scheels Gesicht ähnelt unterdessen immer mehr einem gemeißelten Stein, der eher die Härte als die Heiterkeit seines Lebens auszudrücken scheint. Arnulf Baring hat diese doppelte Prägung Scheels zutreffend beschrieben: Er verkörpere die "Erfolgsgeschichte dieser Bundesrepublik". "Aus ihm sprachen aber gleichzeitig und zunehmend auch die Zweifel an der Zukunft einer freien Industriegesellschaft, wenn sie sich nicht wandele. Indem Scheel auch für die sensiblen Teile der Bevölkerung, zumal der jüngeren unter uns, das Wort ergriff, wurde er wirklich unser aller gemeinsamer Nenner."
Die angebliche rheinische Frohnatur Scheel hat diesen doppelten Charakter beieindruckend in seiner Rede zum Amtsantritt nach der Vereidigung am 1. Juli 1974 ausgesprochen und dabei schon vor Horst Köhler von der Liebe zu unserem Land geredet: "Der Eid, den ich soeben abgelegt habe, ist mir ernste Verpflichtung. Mit Ehrfurcht vor der Aufgabe und mit Liebe zu unserem Land will ich das Amt des Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland ausfüllen." Er hat es getan.