Die diesjährige Fußball-EM brachte neben dem Titelgewinn Griechenlands eine zweite große Überraschung: den hohen Anteil von Zuschauerinnen, die das Turnier - völlig unabhängig vom Abschneiden der deutschen Mannschaft - bis zum Finale verfolgten. Im Jahr zuvor gewann die deutsche Frauenfußballnationalmannschaft sogar den Weltmeistertitel, ein Erfolg, der von ihrem männlichem Pendant in naher Zukunft kaum zu erwarten sein dürfte. Hat also der Fußball, möglicherweise der Sport insgesamt, als Männerdomäne ausgedient? Keineswegs.
Die moderne Sportkultur ist seit ihrem Entstehen im 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart hinein eine Sphäre, in der Männer im Wesentlichen unter sich bleiben. Zwar sind in Sportvereinen fast ebenso viele Frauen wie Männer engagiert, in der Sportberichterstattung von Tageszeitungen aber handeln nur 15 Prozent der Artikel von Sportlerinnen - nicht zuletzt deshalb, weil sich das öffentliche Interesse an Mannschaftssportarten weitgehend auf Herrenteams beschränkt, auch beim in der europäischen Sportkultur hegemonialen Fußball. Zwar verfolgen - vor allem jüngere - Frauen vermehrt internationale Fußballturniere, aber nur wenige bringen anschließend ein kontinuierliches Interesse für den Spielbetrieb der Vereinsmannschaften auf. In deutschen Fußballstadien stellen Männer und Jungen die überwiegende Mehrheit, und auch unter der zahlenmäßig sehr viel größeren Gruppe jener, die den Spielbetrieb Woche für Woche lediglich über die Medien verfolgen, sind nur relativ wenige Frauen zu finden. Das stille Vergnügen, sich spätestens am Montagmorgen in die aktualisierten Tabellenstände der relevanten Fußballligen zu vertiefen, bleibt überwiegend Männern vorbehalten.
Der Grundstein für die hochgradige Affinität von Männern für die Welt des Sports wird bereits früh gelegt. Anders als bei Mädchen existiert für Jungs bereits früh ein sozialer Druck, sich als Fan zu einem Fußballverein zu bekennen. In Verbindung mit gelegentlichen Stadionbesuchen, häufig in Begleitung von Vätern oder älteren Brüdern, einer zumindest kurzen Karriere in örtlichen Jugendmannschaften und einem ausgedehnten TV-Konsum entsteht eine dauerhafte und emotionale Verbindung zum Fußballsport und zu einem spezifischen Club.
Die Arten und Weisen der Identifikationen verändern sich freilich im Übergang vom Jugendalter ins Er-wachsenenleben. Die Hoffnung auf eine eigene Fußballkarriere musste in der Regel bereits früh aufgegeben werden, die umstandslose Identifikation mit einzelnen Spielern schwindet. Es bleibt kaum noch die Zeit, um sich beinahe jede Fernsehübertragung anzuschauen und sich von einem verloren Spiel des "eigenen" Clubs das ganze Wochenende vermiesen zu lassen. Aber vor allem bei internationalen Turnieren sind viele Männer ohne weiteres bereit, die Terminierung beruflicher wie privater Verpflichtungen schon Wochen im voraus mit dem jeweiligen Spielplan abzuglei-chen. Und nicht selten reiben sich ihre Partnerinnen verwundert die Augen, ob deren hochgradig emotionaler Anteilnahme am Spielgeschehen. Diese resultiert nicht nur aus der Identifikation mit der eigenen Mannschaft, sondern auch aus den eigenen Erfahrungen "auf dem Platz". Wer jemals im Verein ein entscheidendes Tor erzielt, als Elfmeterschütze versagt oder mit den Mannschaftskameraden ein völlig unverdientes 0:0 über die Zeit gerettet hat, ist physisch und psychisch kaum in der Lage, ähnliche Spielsituationen am Fernsehschirm unbeteiligt zu verfolgen.
Dieser jahrzehntelange Prozess der Ansammlung von Fußballerfahrungen und Fußballwissen bringt für die darin involvierten Männer zwei wesentliche Annehmlichkeiten mit sich. Erstens lässt sich darüber nicht nur Milieu übergreifend, sondern gar weltweit (mit Ausnahme der USA) trefflich small-talken , zweitens bedeutet es die frühzeitige Einübung eines lustvollen und gesellschaftlich überaus nützlichen Umgangs mit Konkurrenzen und Hierarchien.
Der gesamte moderne Sport, keineswegs nur der Fußball, ist in seiner inneren Logik auf den Wettkampf und den Sieg ausgerichtet. Es ist letztlich nicht wichtig, ob eine Mannschaft schön gespielt hat, sondern ob "etwas Zählbares dabei herausgekommen ist". Oder in den Worten Otto Rehagels: "Modern ist, wer gewinnt!" Sport funktioniert deshalb nicht ohne Dokumentationssysteme, die Athleten oder Teams in hierarchische Reihenfolgen bringen: Ranglisten und Tabellen. Schon auf Jungs übt dieses nach objektiven Kriterien sortierte Datenmaterial eine ungemeine Faszination aus. Sie studieren nicht nur jegliche verfügbare Tabelle, sie kreieren mit Vorliebe auch eigene. Während man als Jugendlicher vor 20 Jahren den kompletten Bundesliga-Spielplan anhand des "Kicker"- Sonderhefts auswürfelte oder mit dem Tipp-Kick-Spiel durcharbeitete, hat sich das Interesse heute auf Computerspiele verschoben, in denen man als Manager eines Fußballclubs agiert und sein Team durch die richtigen Entscheidungen auf einen vorderen Tabellenplatz bringt.
Die Bewertung realer wie irrealer Ranglisten funktioniert allerdings immer nur über ein mehr oder weniger komplexes System von Zu- und Abneigungen. Eine Tabelle ist nur dann wirklich interessant, wenn man sich eine Meinung darüber gebildet hat, wer oben stehen soll und wer unten, wer Meister werden muss und wer keinesfalls absteigen darf. Hat man diese Entscheidungen einmal gefällt - und Gründe dafür sind schnell gefunden -, ist potentiell jeder Wettbewerb interessant. Die Geschehnisse in den europäischen Fußballligen ebenso wie die Performance des Heimatvereins in der Kreisklasse B.
Auch Formel 1-Rennen, die Tour de France oder Skispringen können auf diese Weise mit Anteilnahme verfolgt werden -, vermittelt über den Medaillenspiegel wird so selbst ein olympischer Vorlauf im Rudern interessant. Und da alle diese Wettbewerbe letztlich auf datenförmigen Ranglisten beruhen, ist es nicht notwendig, das Geschehen am Fernsehschirm zu verfolgen, es genügen auch die auf einem höheren Abstraktionsgrad beruhenden Live-Ticker und Ergebnislisten im Internet und im Teletext.
Der sportliche Wettkampf wird so für viele Männer zum Abbild der Welt. Wer soll oben stehen, wer unten? Wie verorte ich mich im Verhältnis zu anderen? Es ist immer noch besser, auf Tabellenposition 8 zu stehen als auf Platz 9, auch wenn es keinerlei materielle Konsequenzen mit sich bringt. Position12 kann auch in Ordnung sein, wenn der Intimfeind hinter einem platziert bleibt. Die Regeln eines Wettbewerbs müssen nicht logisch sein, damit Männer ihn gewinnen wollen, der Prozess muss nur zu objektiven Da-ten führen, die eine Hierarchisierung möglich machen. Nicht ganz zufällig folgen in Tageszeitungen Börsen- und Sportteil direkt aufeinander.
Männer lieben Zahlen und Statistiken. Tischtennis zu spielen, ohne die Punkte zu zählen, finden sie langweilig. Sie denken über ihre Marathonbestzeit ebenso gerne nach wie über das Überschreiten magischer Grenzen beim Jahresgehalt, sie kennen die Golfhandicaps ihrer Geschäftspartner und sind über die neuesten Tabellenstände bestens informiert. Wer wissen will, wer in der Frauenbundesliga zur Zeit vorne steht, fragt am besten einen von uns.
Der Autor arbeitet am Institut für europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin