Seit einigen Wochen liegt mit der Pilotstudie "Gewalt gegen Männer" die gesamte Bandbreite der personalen Gewalt vor. Studien zu Männern als Täter und zu Frauen als Opfer werden bereits seit längerem durchgeführt. Einen Überblick über Männer als Opfer verschiedenster Gewaltarten gab es bislang nicht.
Das Thema "Gewalt gegen Männer" ist ein weitge-hend unbekanntes Gebiet. Sobald es einmal benannt ist, wuchern mangels reflektierter Erkenntnisse die Fantasien. Relativ unumstritten ist, dass Männer und männliche Jugendliche viel körperliche Gewalt insbesondere im öffentlichen Raum und insbesondere von Geschlechtsgenossen erfahren. Männliche Jugendliche und junge Männer sind nicht nur überzufällig häufig Täter, sondern auch Opfer. Heftig umstritten ist im Gegensatz dazu zum Beispiel, inwieweit Männer im häuslichen Bereich durch Frauen Gewalt erleiden. Hier reichen die Standpunkte von "nicht vorstellbar" in einer patriarchalen Gesellschaft, und demnach nicht existent, bis hin zu Aussagen, dass Männer im häuslichen Bereich ähnlich viel Gewalt erfahren wie Frauen. Noch weniger Wissen existiert zum Bereich sexualisierter Gewalt gegen Männer.
Ziel der Pilotstudie war es, Forschungszugänge zu diesem Thema zu eröffnen und erste Zahlen über die Gewalterfahrungen von Männern im häuslichen wie im außerhäuslichen Bereich durch die Befragung von in Deutschland lebenden Männern zu gewinnen. Mit Hilfe qualitativer Interviews wurde ein Instrument mit verschiedenen Fragebogenteilen für eine repräsentative Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) zum Ausmaß und der Relevanz von Gewalt gegen Männer entwickelt und in einer Stichprobe mit 266 zufällig ausgewählten Personen erprobt. In zweiter Linie wurden die Hintergründe und Folgen dieser Gewalt erhoben.
Als ein übergreifendes Ergebnis lässt sich festhalten, dass nicht alle Gewalthandlungen gleichermaßen wahrgenommen und erzählt werden. Bestimmte Gewaltformen sind so normal im Männerleben, dass sie nicht als solche wahrgenommen und dadurch auch nur begrenzt erinnert werden. Widerfahrenes, das in der männlichen Normalität untergeht, sind zum Beispiel körperliche Gewaltakte in der Öffentlichkeit, die als normale Auseinandersetzungen wahrgenommen werden. Andere Gewaltformen sind so tabuisiert, dass sie entweder nicht erinnerbar sind oder die betroffenen Männer nicht über sie berichten. Beispiele für den tabuisierten, "unmännlichen" Bereich finden sich insbesondere bei der sexualisierten Gewalt. Handlungen aus diesen Bereichen sind in der Studie vermutlich unterrepräsentiert. Leichter wahrnehmbar ist somit der Bereich, der "über das normale Maß" hinausgeht, aber noch nicht "unmännlich" ist.
In der Kindheit und Jugend ist das Risiko, Opfer von Gewalthandlungen zu werden, für Männer sehr viel größer als im Erwachsenenleben. Nur eine kleine Minderheit der befragten Männer - jeder siebte - berichtet über keine Gewalt in dieser Lebensphase. Über körperliche und psychische Gewalt wird jeweils von der Mehrheit berichtet. Schwere körperliche Gewalt in Kindheit und Jugend scheint zuzunehmen. Obwohl die körperliche Gewalt in dieser Altersgruppe insgesamt zunimmt, verringert sie sich in der Erziehung. Körperliche Gewalt in der Erziehung wird immer noch von vielen Männern nicht als Unterdrückung, sondern als "normale" Erziehungsmethode angesehen.
Von sexualisierter Gewalt in der Kindheit und Ju-gend wird deutlich weniger berichtet - sie wurde jedoch in allen Schweregraden und Varianten benannt, die abgefragt wurden. Am ehesten berichten Männer über ungewollte, unangenehme Berührungen, die in Kindheit und Jugend zum Teil eindeutig sexualisierten Charakter annehmen. Es wurde auch über schwerste Vorfälle berichtet - bis hin zu jahrelangem Missbrauch und Vergewaltigungen. Von eindeutiger sexualisierter Gewalt in der Kindheit und Jugend berichtet etwa jeder zwölfte Mann. Die gesamte Gewaltbelastung von Männern ist im Erwachsenenalter deutlich geringer als in der Kindheit und Jugend, mit Ausnahme der Wehr- und Zivildienstzeit. Die Gewaltbelastungen im Erwachsenenleben sind ausdifferenziert nach Lebensbereichen analysiert worden, da Gewalt nur aus dem jeweiligen Kontext heraus zu verstehen und zu verändern ist.
Entgegen der Annahme, dass Männer insbesondere in der Öffentlichkeit Gewalt trifft, sind die Lebensbereiche Öffentlichkeit, Freizeit und Arbeitsleben etwa gleichgewichtig vertreten, jedoch mit deutlich anderen Ausprägungen des Erlebten. Körperliche Gewalt widerfährt insbesondere jüngeren Männern überwiegend in Öffentlichkeit und Freizeit. In der Arbeitswelt überraschte die hohe Belastung durch psychische Gewalt, wovon ein Teil als systematisches Mobbing zu betrachten ist. Innerhalb von Lebensgemeinschaften gibt es keine eindeutige Gewichtung zwischen den Gewaltformen. Entgegen dem geläufigen Vorurteil wurde jedoch nicht nur durch eine kleine Minderheit über körperliche Gewalt berichtet. Obwohl ein Teil der Männer von Verletzungen aufgrund der Gewalthandlungen der Partnerin berichtet, hat keiner diese Körperverletzung angezeigt. Auffällig ist hier zudem der viel genannte Bereich der sozialen Kontrolle durch die Partnerin.
Bei sexualisierter Gewalt im Erwachsenenleben scheinen die größten Hindernisse vorzuliegen, über entsprechende Geschehnisse zu berichten. Hier fehlen nicht nur eine entsprechende Sprache und entsprechende Bilder, sondern auch der Mechanismus der "Scham der Unmännlichkeit" wirkt als großes Hindernis. Sexualisierte Gewalt gegen Männer existiert in einer Bandbreite von sexueller Belästigung über Nötigung bis hin zu Vergewaltigung. Dies kommt sowohl in den qualitativen Interviews zum Ausdruck, in denen Männer zum Teil von massiven sexualisierten Gewalterfahrungen, beispielsweise auch von Vergewaltigungen, berichten als auch in Einzelfällen in der quantitativen Befragung.
Eines der beeindruckendsten und in dieser Form auch überraschendsten Ergebnisse war die Häufigkeit und teilweise auch Intensität, mit der der Zweite Weltkrieg Spuren bei den Befragten hinterlassen hat. Im Mittelpunkt der Viktimisierung durch den Krieg als Soldat oder Zivilist steht die Erinnerung an Extremsituationen, die weit über der durchschnittlichen Erfahrung liegen. Es wurde deutlich, dass dies ein Thema ist, das noch immer viele Männer beschäftigt und Auswirkungen auf ihr Leben hatte.
Für die Wehr- und Zivildienstzeit wurden die gleichen Gewaltakte abgefragt wie für die anderen Lebensphasen. In der Befragung zeigte sich, dass viele dieser Gewaltakte mit einer gewissen Selbstverständlichkeit zum Wehrdienst gehörten. Daher gab es häufig eine Übereinkunft von Interviewer und Befragten, nur über solche Erfahrungen zu reden, die "über das normale Maß" hinausgehen. Trotzdem liegt die erfasste Gewaltbelastung von Männern während der Wehrdienstzeit besonders im Bereich der psychischen Gewalt weit über den Belastungen im weiteren Erwachsenenleben. Der Zivildienst scheint für die wehrpflichtigen Männer ein geringeres Risiko darzustellen, Ziel gewalttätiger Handlungen zu sein, als der Wehrdienst. Dieses Risiko ist aber immer noch weit höher als das im zivilen Leben.
Die Größe der aufgezeigten Gewaltbelastung steht im Widerspruch zum üblichen Fokus auf Männer als Täter. Männer sind in einigen Bereichen in unerwartet hohem Ausmaß Opfer von Gewalt und zwar auch im Bereich Lebensgemeinschaften. Wenn dieses Ergebnis ernst genommen wird und den Opfern geholfen werden soll, ist es notwendig, dass Netzwerke und Orte geschaffen und gefördert werden, die sich des Themas annehmen und es in die Öffentlichkeit tragen. Zudem ist die Weiterentwicklung des psychosozialen Hilfesys-tems für gewaltbetroffene Männer und Jungen erforderlich. Vor allem bei den bisher tabuisierten Gewaltbereichen muss die Chance auf Unterstützung bei der Beendigung, Aufarbeitung und Bewältigung der gegen sie gerichteten Gewalt vergrößert werden.