Eine Spirale von Gewalt und Gegengewalt, die hunderttausende Menschenleben gekostet, und für die unbeteiligte Zivilbevölkerung anhaltende dramatische Konsequenzen hat, kennzeichnet seit Jahrzehnten die Tragödie Kolumbiens. Geschichte und Gegenwart dieses zerrissenen Landes zu verstehen - ein ambitioniertes Unterfangen.
In den historischen Kapiteln arbeitet der Autor knapp die die Entwicklung des Landes bestimmenden Grundstrukturen heraus. Zu nennen sind die nach der Unabhängigkeit sich herausbildenden Oligarchien und deren Form von Interessendurchsetzung, der Gegensatz Zentralismus-Föderalismus oder das Verhältnis Kirche-Staat. Das zentrale Problem liegt jedoch in der Tradition der Gewalt als Instrument der politischen Auseinandersetzung mit der kolumbianischen Besonderheit, dass es nicht zu einer Implementierung eines staatlichen Gewaltmonopols kam, sondern sich dieses zwischen verschiedenen zivilen Interessengruppen und staatlichen Institutionen aufsplittete.
In der Gemengelage der Gewaltstrukturen (Paramilitärs, Guerilla, Verbindung staatlicher und paramilitärischer Gewalt) haben staatlich initiierte Befriedungsansätze bislang nie zu einem irreversiblen Prozess geführt. Überwiegend blass bleiben leider die Erklärungen, weshalb diese Bemühungen scheiterten. Auch zivilgesellschaftliche Ansätze zu einem "Frieden von unten" konnten die Entwicklung nicht wesentlich beeinflussen.
Die Einbeziehung der indigenen Gemeinschaften in die historische und aktuelle Problematik vermittelt interessante Informationen. Deutlich wird die Kritik des Autors an der "von einer kolonialistischen Herrenmentalität geprägten Politik" der FARC, der größten Guerilla, gegenüber diesen Menschen.
Einige kritische Anmerkungen sind zu machen. Unter dem Aufbau und den vielfachen Wiederholungen leidet zum Teil die Lesbarkeit und Verständlichkeit. Einige der 16 Texteinschübe, offensichtlich frühere journalistische Beiträge des Autors, wären besser in einem Reise- führer aufgehoben. An zentralen Stellen, an denen man sich Näheres über inhaltliche Vorstellungen der Beteiligten gewünscht hätte, bleibt es bei plakativen Aussagen, Bewertungen des Autors sind dadurch schwer nachzuvollziehen.
Auch wenn die Verbrechen der Guerilla angesprochen werden, entsteht angesichts der Schwerpunktsetzung des Buches der Eindruck, dass die Paramilitärs die Hauptursache der Zerrissenheit des Landes darstellen. Die Frage, ob die Guerilla noch über eine politische Motivation verfügt, oder es sich inzwischen um eine vom historischen Ursprung weit entfernte kriminelle Bewegung handelt, für die kein Anreiz einer Einbindung in das politische System besteht, wird ohne Begründung im Sinne eines weiter bestehenden politischen Projektes bejaht. Die Begründung soll offensichtlich einem 16 Jahre alten Interview mit dem Gründer der FARC entnommen werden, in dem unter anderem Entführungen oder die Verbindung mit dem Drogenhandel schlichtweg geleugnet werden. Hier hätte man sich einen analytischeren und kritischeren Tiefgang gewünscht. Dies betrifft auch die Frage der Auswirkungen des im Gang befindlichen Generationenwechsels innerhalb der FARC. Die Aussage, die Guerilla setze auf einen über die Regierung Uribe hinausgehenden Zeithorizont, beantwortet nicht, auf was die Guerilla, die nach dem Autor während der Regierung Pastrana wichtige Chancen eines Friedensprozesses vergeben hat, wartet, mit wem sie bereit ist zu welchem Ergebnis zu kommen.
Die konzeptionellen wie praktischen Probleme der 2002 entscheidend in Gang gekommenen Demobilisierung der Paramilitärs werden kritisch dargelegt, die Bewertung dieses Prozesses als "fadenscheinig" ist jedoch schwer nachvollziehbar. Welche Probleme nach der Demobilisierung bewaffneter Gruppierungen entstehen, erlebt Lateinamerika ja nicht zum ersten Mal. Ein Blick auf einige zentralamerikanische Staaten genügt. Wer daher glaubt, dass sich über Jahrzehnte hinweg entwickelte Strukturen einfach auflösen lassen und ausgerechnet in Kolumbien über Nacht die Etablierung einer mustergültigen Reißbrettdemokratie möglich wird, verfällt Illusionen. Auch bleibt die Darstellung nicht widerspruchsfrei. Auf der einen Seite sieht der Autor die Paramilitärs nur einem System der Raub-Ökonomie verpflichtet, um in einem späteren Halbsatz eine ideologische Annäherung zwischen Guerilla und Paras in einigen Forderungen festzustellen.
Die Regierung Uribe, 2006 eindrucksvoll bestätigt, hat einen schwierigen, nicht unumstrittenen Weg eingeschlagen, der kritisch zu begleiten ist, und dessen Langzeitauswirkungen aktuell nicht eingeschätzt werden können. Daraus den Schluss zu ziehen, es sei mit einer Zusammenführung von (ehemaligen) Paramilitärs und der Regierung zur Errichtung eines "rechtskonservativen bis faschistoiden Gesellschaftsprojekts" zu rechnen, wird der Komplexität der kolumbianischen Problematik nicht gerecht.
Werner Hörtner: Kolumbien verstehen. Geschichte und Gegenwart eines zerrissenen Landes. Rotpunktverlag, Zürich 2006, 311 S., 19,80