Für seinen erzählten Essay "Mohammedanische Versuchungen" (2004) erhielt der deutsche Islamwissenschaftler Stefan Weidner viel Lob und den Clemens-Brentano-Preis der Stadt Heidelberg 2006. Mit seinem neuen Buch "Fes. Sieben Umkreisungen" ist ihm eine ähnlich inspirierende und beglückende Mischung aus Reisebericht, Reportage, kulturhistorischem Vortrag, Essay und Fiktion gelungen.
Weidner lässt sein Alter Ego R. mit einer Gruppe deutscher Schriftsteller von Rabat nach Fes und alleine weiter nach Marrakesch reisen. Während seiner Streifzüge durch Marokkos Königsstädte, den Gesprächen mit Mitreisenden und ihrem Reiseführer, dem marokkanischen Dichter Nassib, assoziiert R. scheinbar frei über Vergangenheit und Gegenwart von Geistesleben und Gesellschaft des Landes. Mit gelassener Sachkenntnis und voller Leidenschaft schreibt Weidner etwa über die Romantik arabischsprachiger Gegenwartsdichter oder darüber, wie Fes im 10. Jahrhundert zum geistigen Zentrum des arabischen Westens wurde. Er spannt den Bogen von der Schönheit der labyrinthartigen Altstädte, zu Großstädterinnen, die mit lila Fingernägeln in arabischen Klassikern blättern, und den archaischen Strukturen in der Moschee nebenan; auch das Unwohlsein des Europäers alleine unter Einheimischen wird thematisiert und R.s Wunsch, für die Marokkaner kein Exot zu sein.
Durch das Changieren zwischen historischen Rückblicken, detailgenauer Beobachtung vor Ort, persönlichen Erlebnissen, teils schwelgerischer Erzählung und kritischen Reflexionen ergeben sich zahlreiche gedankliche Querverbindungen. Man liest von Spielarten der Koranvermarktung wie "Nano-Koranen", die sich reiche Saudis auf ihre Herzschrittmacher gravieren lassen, und von CDs mit Koran-Rezitationen, deren Hüllen - im Gegensatz zum Konservatismus des Rezitationswesens - individuell gestaltet sind. Weidner schreibt: "Um einen Einblick in die aktuelle Gemütslage der Muslime zu erhaschen, ist es sogar angemessener, diese Verpackungen zu studieren, als die gegenwärtige arabische Literatur."
Jedes zweite der sieben Kapitel - angelehnt an die sieben Mal, die der Pilger die Kaaba umkreisen muss - besteht aus illustrierenden Fotografien Weidners, die jedoch weder fotografisch noch bildmotivisch Besonderes bieten. Überraschendere Blickwinkel eröffnen die Ausführungen Nassibs, der den Europäern beispielsweise erklärt, wie der Zweite Weltkrieg zur Unabhängigkeit ehemaliger Kolonien - so auch des lange von Frankreich und Spanien besetzten Marokko - beitrug; oder dass die Intellektuellen der marokkanischen Frankophonie aus Sicht der arabischsprachigen Schriftsteller nicht für Marokko sprechen können, weil sie nicht die arabisch-islamische Kultur fortschreiben. Mit dem Blick eines marokkanischen Intellektuellen und eines deutschen Islamexperten auf das Land, das uns in seiner Fremdheit so aufregend und durch europäische Einflüsse zugleich vertraut erscheint, schafft Weidner einen ungewöhnlichen Dialog. Man kann nur jedem empfehlen, sich auf das große Abenteuer der Lektüre dieses Buches einzulassen.
Stefan Weidner: Fes. Sieben Umkreisungen. Meridiane 95, Ammann Verlag, Zürich 2006. 220 S. mit farbigen Fotos, 18,90 Euro.