Das Parlament: Auf einer Skala von eins (schlecht) bis zehn (gut): In welcher Verfassung sind die Grünen aktuell?
Ulrich Sarcinelli: Ich würde sie irgendwo bei drei verorten.
Das Parlament: Warum?
Ulrich Sarcinelli: Weil ich glaube, dass sich die Grünen seit der Bundestagswahl noch in einer Art Schreckstarre befinden und große Orientierungsprobleme haben. Das betrifft ihre programmatische Neuausrichtung ebenso wie ihre personellen Alternativen.
Das Parlament: Gibt es Beispiele für fehlende Profilierung?
Ulrich Sarcinelli: Die Grünen sind jetzt Oppositionspartei. Sie müssen sich jetzt strategisch Gedanken machen, wie ihre programmatischen Grundanliegen Ökologie, Basisdemokratie, Frieden in Aktionsprogramme umgesetzt werden können. Dabei sind die Grünen momentan in einer komfortablen Situation. Beide großen Parteien spekulieren mit den Grünen als möglichem Bündnispartner nach einem Ende der großen Koalition 2009. Das sollte die Programmdiskussion beleben.
Das Parlament: Ist es nicht etwas früh für Koalitionsplanungen?
Ulrich Sarcinelli: Es geht natürlich nicht darum, eine Politik der bloßen Mehrheitsbeschaffung zu betreiben - das passt auch nicht zu den Grünen. Vielmehr sollten die Grünen sowohl programmatisch als auch personell in eine strategische Position kommen, die sie in die Lage versetzt, gegebenenfalls Koalitionspartner zu sein und damit eine neue Mehrheit zu ermöglichen.
Das Parlament: Sind die Grünen mittlerweile in der Opposition angekommen?
Ulrich Sarcinelli: Sie sind jedenfalls wenig sichtbar. Sie haben das Problem, sich als kleinste Oppositionspartei unter drei Oppositionsparteien sichtbar machen zu müssen. In einer großen Koalition ist es ohnedies schwierig für die Opposition, im Prozess des Agenda-Settings mitzuspielen. Die Grünen haben sich bisher in der stillen Oppositionsecke gefangen nehmen lassen. Es fehlen die deutlichen "Ausbrüche" im Sinne von Themensetzung und entsprechendem programmatischem Profil.
Das Parlament: Sind die Grünen denn in der Nach-Fischer-Ära angekommen?
Ulrich Sarcinelli: Fischer war natürlich der alles überragende Übervater. Wenig geliebt, aber für die Partei unverzichtbar. Ich habe den Eindruck, dass sich die Grünen nun wieder in ihrer alten Rolle gefallen, möglichst keine Leitfigur hochkommen zu lassen. Ob das klug ist, darüber kann man streiten. Denn eine Partei braucht heute sichtbare, mediensichtbare Spitzenakteure, die als Leuchttürme fungieren, die die Identifikation mit der Partei über ein Gesicht ermöglichen. In einer Zeit, in der Komplexität immer stärker zunimmt, ist die Darstellung von Politik ebenso wie die Wahrnehmung von Politik über Gesichter eine ganz zentrale Aufgabe von Parteien.
Das Parlament: Kann man aus dieser Tatsache schließen, dass die Grünen momentan in einer Führungskrise stecken?
Ulrich Sarcinelli: Das wäre noch nicht so schlimm wie der Zustand, in dem sich die Grünen gegenwärtig befinden, wo man eine Führungssituation überhaupt nicht erkennen kann. Mit vier Führungspersonen, zwei auf Fraktionsebene und zwei auf Parteiebene, haben sie ein riesiges Problem. Das war strukturell zwar vorher auch der Fall, aber als Außenstehender hat man die Grünen stets wahrgenommen über die allpräsente Führungsfigur des Außenministers Joschka Fischer, wie überhaupt in ihrer Rolle als Regierungspartei. Das ist weggefallen. Nun muss man als Tante Frida und Onkel Otto herumraten, wer eigentlich für die Grünen steht.
Parlament: Wo sehen Sie Chancen zur Profilierung?
Ulrich Sarcinelli: Die Grünen sind keine Regierungspartei mehr. Das hatte es ihnen schwer gemacht, beispielsweise in Bereichen wie der Außenpolitik und der Friedenspolitik, traditionell grüne Positionen zu belegen. In dieser Disziplin stehen sie nun nicht mehr. Bei einer Neuorientierung der Außenpolitik - auch was die Rolle der Bundeswehr anbelangt - ist durchaus Platz für eine stärkere Profilierung der Grünen. Friedenspolitik war ja mal ein klassisches Thema der Grünen. Im Bereich der Wirtschaft haben wir infolge besserer Wirtschaftsdaten eine Situation, die es leichter macht, ökologische Fragen in den Mittelpunkt zu stellen. Es gibt in der Öffentlichkeit eine wachsende Sensibilität für die Folgen des demografischen Wandels; das betrifft alle Politikbereiche im Hinblick auf Nachhaltigkeit. Es sind also durchaus Themenfeldern zu besetzen, die für die Grünen nicht neu sind, wo sie aber jetzt - entlassen aus der Kabinettsdisziplin - ein schärferes Profil zeigen müssen.
Das Parlament: Ist es ein erster Schritt, der grünen Politik ein Gesicht zu geben?
Ulrich Sarcinelli: Es geht nicht um Personalisierung im Sinne einer inhaltslosen Inszenierung. Es geht darum, einen programmatischen Prozess zu entwickeln, den man dann - wenn man denn so weit ist - auch mit einem Kopf oder mit Köpfen nach außen vertreten und darstellen kann. Also nicht Personalisierung um der Personalisierung Willen. Aber Politikdarstellung und Politikwahrnehmung leben heute in einem hohen Maße von einer Reduktion von Komplexität. Ein zentrales Muster dabei ist Personalisierung. Politik braucht auch Gesichter.
Das Parlament: Im Bundestag haben die Grünen gegen eine Verlängerung des Afghanistaneinsatzes gestimmt, obwohl sie ihn während ihrer Regierungszeit mit beschlossen hatten. Sind die Grünen noch glaubwürdig?
Ulrich Sarcinelli: Ich glaube schon, dass die gegenwärtigen Probleme, die wir im Nahen Osten, im Irak und in Afghanistan und die wir mit der Rolle der USA und dem Selbstverständnis der Nato haben, Spielräume geben für Neupositionierungen. Und es wäre verwunderlich, wenn eine Partei wie die Grünen dies nicht für neue sicherheits- und außenpolitische Akzente im Sinne eines ausgesprochen friedenspolitischen Profils nutzen würde.
Das Interview führte Sebastian Hille.