Armer Tempel, reicher Abt": Mit solchen und ähnlichen Sprichwörtern fernöstlicher Weisheit veranschaulicht die chinesische Wirtschaftsjournalistin Qinglian He die innere Misere ihres Heimatlandes, von der die Außenwelt nur selten etwas wahrnimmt. Im Westen reden die Medien meist vom Wirtschaftswunderland China, aber selten vom korrupten System, das es bislang noch trägt. Nach der Lektüre dieser brillanten Analyse von Betrug und Bestechung im scheinbar reformierten China werden sich die westlichen Industrienationen fragen müssen, was sie zukünftig eher zu fürchten haben: Die wirtschaftliche Potenz oder die politische Impotenz des Riesen aus Fernost.
Die mittlerweile im amerikanischen Exil lebende Ökonomin rechnet in dem bereits 1998 erschienenen, jetzt aktualisierten Buch mit der politischen und wirtschaftlichen Elite gnadenlos ab. Nicht mit dem Zorn und der Polemik eines enttäuschten Marxisten, sondern mit dem kritischen Verstand einer sozialen Marktwirtschaftlerin durchleuchtet sie die korrupten Praktiken der Reformer. Anhand von kritischen Zeitungsartikeln, inoffiziellen Wirtschaftsberichten und statistischem Zahlenmaterial weist sie haarklein nach, wie sich die Kader der Kommunistischen Partei sowie ihre Mittelsmänner am privatisierten Besitz schamlos bereichert haben. Ohne die Produktivität der Betriebe oder der Landwirtschaft auch nur einen Deut zu steigern. Ganz im Gegenteil. Die "Vermarktung der Macht", der "Deal zwischen Geld und Macht" lähmt die Produktivität, ruiniert die öffentlichen Haushalte und erzeugt ein Heer von Arbeitslosen. Glaubt man Hes Berechnungen und Interpretationen ist die Kluft zwischen Arm und Reich tiefer als je zuvor. Trotz exzellenter Wachstumsraten und eines sichtbaren Anstieg des Wohlstands.
Aber die Früchte des Wirtschaftsbooms teilen sich eine extrem schmale Ober- und eine relativ dünne Mittelschicht. Dank eines ebenso dichten wie korrupten Beziehungsgeflechts halten sie sich relativ gefahrlos an der Spitze der Gesellschaftspyramide. Rund 80 Prozent aller Chinesen, darunter etwa 140 Millionen ungelernte Wanderarbeiter, darben weiterhin und bedrohen durch Raub, Mord, Prostitution und Drogenhandel den sozialen Frieden. Die chinesische Ober- und Unterschicht unterscheidet sich nach ihrem Vermögen, aber nicht nach ihrer kriminellen Energie. Letztlich liegt für sie die Wurzel allen Übels in einer historisch beispiellosen "moralischen Degeneration der Gesellschaft".
So sehr sie dem Aufbau eines Rechtsystems und demokratischen Mehrparteiensystems nach westlichem Muster das Wort spricht, die Lösung aller Probleme sieht sie vor allem "in der Etablierung einer modernen Moral und eines politischen Verantwortungsgefühls in der chinesischen Öffentlichkeit". Doch selbst wenn sich die korrupten Kommunisten aus der wirtschaftlichen Hemisphäre irgendwann einmal verabschieden sollten, stellt sich der wünschenswerte Sittenwandel bestimmt nicht ein. Dafür ist die von He selbst angesprochene "Tradition der Korruptionskultur" zu mächtig und die Lust am Luxus und Profit zu verlockend geworden.
Deswegen vertragen sich Qinglian Hes idealistische Lösungen auch nur bedingt mit ihren äußerst realitätsnahen Analysen der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen. Letztlich überwiegt auch bei ihr der Pessimismus. Für Chinas Zukunft sieht sie eher schwarz. Im Gegensatz etwa zu ihren westlichen Kollegen von der Neuen Zürcher Zeitung, die momentan "günstige Rahmenbedingungen für die politische Modernisierung" im Reich der Mitte zu erkennen glauben. Doch weder schwarzseherische noch hellseherische Prognosen führen weiter. Eine wissenschaftlich exakte und mit erschreckenden Skandalen unterfütterte Reformkritik allerdings schon.
Aber das in China längst zensierte Buch leistet um vieles mehr. Es ist das fehlende Puzzleteil in dem lück-enhaften Bild, dass sich der Westen in den vergangenen Jahren vom chinesischen Wirtschaftsboom gemacht hat. Denn was wir dank Hes scharfer Beobachtungsgabe und intimer Sachkenntnis jetzt einmal selbst betrachten dürfen, ist die hässliche Fratze des janusgesichtigen Chinas.
Qinglian He: China in der Modernisierungsfalle. Aus dem Chinesischen von Christine Reisner. Hamburger Edition, Hamburg 2006; 550 S., 40 Euro.