Mehr und mehr sind es die Parvenüs unter den Metropolen, die unser Bild derselben bestimmen. Das rapide Wachstum, die boomende Dynamik insbesondere ihrer asiatischen Spielart, so selbstgewiss wie vergangheitsvergessen, brennt sich in Form glitzernder Hochhausschluchten und formidabler Shopping-Malls ins Gedächtnis: Tokyo, Shanghai, Seoul - Städte, die sich in letzter Zeit herausgeputzt haben wie ein Mädchen vom Lande, das dann aber immer noch nach billigem Parfüm riecht und sich in dem neuen modischen Schuhen unsicher fühlt.
Es ist just diese Kategorie von Metropolen - im vorliegenden Aufsatzband ‚Megastädte' genannt -, die zum einen über eine enorme Bevölkerungszahl (das heißt, mehr als fünf Millionen Einwohner) verfügen, zum anderen in schnell wachsendem Maße von einer polyzentrisch-fragmentierten, diskontinuierlichen sozialräumlichen Struktur geprägt sind. Wenn man sie als Megamaschine begriffe, die sich alles und jedes zueignet und verarbeitet, dann stünden wir vor der Frage, inwieweit diese Maschine, bei weiterem Wachstum, funktionsfähig bleiben kann. Besitz doch jedes Funktionssystem seine Grenzwerte, die zu überschreiten verderblich wäre. Allein, lassen sich Städte wie Lagos, Sao Paulo, Dehli oder Mexico City nur unter den Perspektiven von Verfall, Chaos, Gewalt, Apokalypse, Auflösung beschreiben? Wohl kaum. Schließlich vibrieren sie vor Vitalität, die sich nicht nur in Überlebenskämpfen erschöpft.
Und in ihnen verbinden sich mit einer Lebens- und Sozialform gleichzeitig Realitäten wie Wünsche. So verstanden ist Megastadt also zugleich analytischer wie normativer Begriff.
Aus vorwiegend historischer Perspektive, stark mit Daten und Fakten unterlegt, versuchen elf Autoren sich ebensovielen Fallbeispielen komparatistisch zu nähern. Sie tun das, wie nicht anders zu erwarten, in sehr unterschiedlicher Weise. Doch das ist wohl nur folgerichtig, wie der Herausgeber Wolfgang Schwentker resümiert: Die politischen und sozio-ökonomischen Ausgangslagen der einzelnen Städte seien "so grundsätzlich verschieden, dass nicht zuletzt deshalb vollkommen unterschiedliche urbane Strukturen und Lebensweisen entstanden sind, ungeachtet einiger Gemeinsamkeiten". Dass Chicago, London und Los Angeles - auch Moskau - anderen Mustern und Bedingungen gehorchen als ihre "Schwestern" in der südlichen Hemisphäre, ahnte man zwar bereits. Umso wohltuender jedoch, dass die simplifizierende Zuschreibung "hier gereifte Urbanität, dort die Zentren von Hybris und Kontrollverlust" strikt vermieden wird.
Natürlich ist die Entwicklung von Megastädten durch eine spezifische Gemengelage verschiedenster Faktoren bestimmt. Dabei scheint der Hintergrund so banal wie unabänderlich: Einseitige Industrieförderung heißt Vernachlässigung der Landwirtschaft. Die schlechten Erwerbschancen im Agrarsektor, dessen Potenzial an Arbeitsplätzen und an kultivierbaren Flächen infolge der Bevölkerungsexplosion und einer zunehmend kapitalintensiven Produktionsweise erschöpft ist, sowie die ungenügende Befriedigung grundlegendster Bedürfnisse treiben die verarmte Bevölkerung - in einem push-Effekt - in die städtischen Ballungszentren. Andererseits wirken die Metropolen - wegen ihres größeren öffentlichen Dienstleistungsangebots - anziehend (pull-Faktor). Hier konzentrieren sich die Sekundarschulen und Universitäten des Landes; auch die medizinische Versorgung ist weitaus besser. Hinzu kommt die Hoffnung vieler Schulabgänger, einen "white-collar"-Job zu finden, der ihren Qualifikationsstand angemessen erscheint. Im Ergebnis werden Megastädte nicht mehr als Orte, sondern eher als Identitäten, nicht nur als räumlich fassbare Bezugspunkte, sondern auch als verdinglichte Erwartungshaltung verstanden.
Wie durch ein Brennglas offenbaren sich hier gleichsam überzeitliche Phänomene. Diese Boomtowns stellen - ihrer jeweiligen Individualität zum Trotz - kein rein lokales oder nationales Problem mehr dar. Sie sind Ausdruck von Globalisierungen, verweisen insofern auf ein Übergewicht universeller Entwicklungen gegenüber lokalen Besonderheiten. Zugleich ist ihnen der Widerstreit zwischen Allgemeinplätzen, übergreifenden Strömen und spezifischen Räumen eingeschrieben. Zwar sind die einzelnen Aufsätze mitunter recht trocken geraten, zwar enden die Zeiträume der jeweiligen Betrachtung zumeist zwischen 1980 und 1990. Aber gerade weil eher Fragen gestellt denn Antworten gegeben, weil nicht neuen Mythen erzeugt werden, stellt dieses Buch einen Gewinn dar.
Wolfgang Schwentker (Hg.): Megastädte im 20. Jahrhundert. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, 308 S., 24,90 Euro.