Die Gesundheitsreform galt seit den Koalitionsverhandlungen im Herbst 2005 als Sollbruchstelle der Koalition. Zu unterschiedlich waren die Ausgangspositionen mit der Gesundheitsprämie der Union einerseits und dem SPD-Modell einer Bürgerversicherung andererseits. Das Scheitern der Koalition konnte zwar vermieden werden, doch die monatelange mühevolle Kompromisssuche führte das Bündnis in eine schwere Krise. In beiden Volksparteien brach Streit aus, wie viel CDU/CSU und wie viel SPD in den Beschlüssen zu finden seien. Rufe nach stärkerer eigener Profilierung wurden laut. Der Grund: Nach mehreren nächtlichen Verhandlungsrunden stand ein Kompromiss, bei dem beide Seiten Federn lassen mussten, der aber niemanden so richtig zufrieden stimmte.
Kein Element bringt das Dilemma der schwarz-roten Regierung bei diesem Vorhaben besser zum Ausdruck als das Kernstück, der Gesundheitsfonds. In ihn sollen ab 2009 die Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern sowie Steuermittel fließen, wobei die Höhe der Beiträge von der Regierung bundesweit einheitlich festgelegt wird. Eigentlich war die Geldsammelstelle als Kompromiss zwischen den Ursprungsmodellen gepriesen worden. Unions-Fraktionschef Volker Kauder landete mit dem vom Wissenschaftlichen Beirat des Finanzministeriums entwickelten Konzept im Frühjahr einen Überraschungscoup. Längst spukte es zu dieser Zeit aber schon durch das Ministerium von Ressortchefin Ulla Schmidt (SPD).
Doch jede Seite träumte ihren eigenen Fonds-Traum. So wollte die SPD die privaten Krankenkassen in den Pool einbeziehen ebenso Gutverdiener und Einkünfte aus Mieten oder Zinsen. Sie kam damit aber nicht durch. Die Union scheiterte mit dem Vorhaben, den Arbeitgeberbeitrag einzufrieren. Die Sozialdemokraten wollten ergänzend einen umfangreichen Finanzausgleich, bei dem Kassen mit vielen kranken und alten Mitgliedern Geld von finanzstärkeren Konkurrenten erhalten. Der Union ging das zu weit und sie setzte in Nachverhandlungen durch, dass sich der Risikostrukturausgleich (RSA) allenfalls an 50 bis 80 teuren chronischen Krankheiten orientieren soll.
Schon Kauders Modell beinhaltete eine Zusatzprämie, die Kassen erheben können, wenn sie mit der ihnen zugewiesenen Summe pro Patient - plus Zuschlag nach Alter und Gesundheitszustand - nicht auskommen. Sie ist ganz im Sinne der Union, weil sie die alte Idee der Kopfpauschale wieder aufgreift. Gerade wegen dieser Nähe zum Unions-Modell ist der Zusatzbeitrag der SPD aber ein Dorn im Auge. Nach langem Kampf gelang es der SPD, die Höchstgrenze auf ein Prozent des beitragspflichtigen Einkommens zu stutzen, um Geringverdiener nicht zu überfordern. Die Union wiederum kritisierte diese Ein-Prozent-Grenze später als Weg zur Einheitskasse. In Nachverhandlungen verständigten sich beide Seiten darauf, dass die Kassen die Prämie bis zu einer Höhe von acht Euro ohne Einkommensprüfung erheben dürfen. Die SPD akzeptiert dies nur zähneknirschend, denn Personen mit weniger als 800 Euro im Monat müssen jetzt mehr als ein Prozent abtreten.
Nicht ausgestanden ist der Streit um die Steuermittel. Die SPD wäre bereit gewesen, eine große Summe aus dem Bundeshaushalt an die GKV fließen zu lassen und dafür notfalls die Steuern zu erhöhen. Bis zu 35 Milliarden Euro waren mal im Gespräch, im Gegenzug sollten die Beiträge sinken. Auch Merkel hatte für eine kräftige Steuerspritze Sympathien gezeigt, doch die Ministerpräsidenten der Union zwangen sie zum Rückzug. Am Ende einigte man sich auf 1,5 Milliarden Euro für 2008 und drei Milliarden Euro für 2009. In den Folgejahren sollen die Zuschläge weiter steigen, bis die beitragsfreie Mitversicherung für Kinder in Höhe von 14 Milliarden Euro komplett von der Allgemeinheit finanziert wird. Erst vor dem Hintergrund der unerwarteten Steuermehreinnahmen erklärte sich die Regierung bereit, schon 2007 1 Milliarde Euro zur Verfügung zu stellen. Der Betrag soll die auf 1,5 Milliarden Euro abgesenkten Mittel aus der Tabaksteuer aufstocken. Eine Neuauflage des Zwistes droht, weil die Gegenfinanzierung der Steuermittel ab 2008 noch ungeklärt ist. Einige in der Union fordern zudem, auch für Kinder in der privaten Krankenversicherung (PKV) Geld aufzubringen. Dies würde weitere zwei Milliarden Euro kosten. Die SPD lehnt das ab. Die Gegensätze der Koalitionäre beim Thema PKV hätten kaum größer sein können. Die SPD pochte in den Verhandlungen auf umfangreiche Wechselmöglichkeiten der Versicherten, zum Beispiel durch eine komplette Mitnahme gesparter Altersrückstellungen. Ein neuer Basistarif sollte als Grundtarif in der PKV für alle ohne Einkommensprüfung zugänglich sein. Erklärtes Ziel von CDU/CSU war es dagegen, die PKV als Vollversicherung zu erhalten. Der Basistarif wird nun einer unter vielen, die Mitnahme von Altersrückstellungen nur faktisch möglich. Jeder ohne Versicherungsschutz bekommt aber das Recht, in seine ehemalige Kasse zurückzukehren. In der PKV dient dazu der Basistarif. Der PKV-Spitzenverband erwägt, gegen die Neuerungen für den Versicherungszweig zu klagen. Überschattet wird der zum 1. April geplante Reformstart durch steigende Beiträge in der GKV. Experten zufolge werden die angepeilten 0,5 Prozentpunkte nicht ausreichen - ein gefundenes Fressen für die Opposition, um das zentrale Vorhaben der Koalition für gescheitert zu erklären. Noch nie ging eine Reform gleich zu Beginn mit steigenden Sätzen einher. Im Reformgezänk untergegangen sind eine Reihe struktureller Veränderungen, die mehr Effizienz und Transparenz bringen sollen. Der Katalog reicht von kassenartenübergreifenden Fusionen über die Zusammenlegung der Kassenverbände bis hin zu Ansätzen für eine übersichtlichere Gebührenordnung für Ärzte. Sogar Leistungsausweitungen sind vorgesehen wie etwa Eltern-Kind-Kuren oder Schutzimpfungen. Jede Seite rühmt sich damit, was sie an vermeintlichen Grausamkeiten der anderen Seite verhindern konnte. CDU/CSU wandten sich dagegen, Privatversicherte und Gutverdiener stärker zu belasten. Die SPD vermied die Ausgliederung von Unfällen, wie sie die Union wollte. Zuweilen ging es in den Verhandlungen zu wie auf einem Basar. Die im Galopp vor der Sommerpause verabschiedeten Eckpunkte standen plötzlich wieder zur Disposition. Die zwischenzeitlich stark angeschlagene Ministerin Ulla Schmidt bekam von der Union vorgehalten, sich bei der Umsetzung der Beschlüsse in einen Gesetzentwurf nicht an Abmachungen zu halten. Den Bürgern präsentierte sich so zuweilen das Bild einer zerstrittenen Koalition, an die sie doch eigentlich hohe Erwartungen geknüpft hatten.
Der Autor ist Redakteur der Nachrichtenagentur Reuters in Berlin.