Deutschland-Polen
Die Parlamente beider Länder setzen auf Dialog - nach deutsch-französischem Vorbild
Die Europäische Union bekommt einen zweiten Motor, der sie schneller nach vorne bringen soll. Das ist zumindest die Absicht der Parlamentschefs Polens und Deutschlands - Sejm-Marschall Marek Jurek und Bundestagspräsident Norbert Lammert. Beide werden in jüngster Zeit nicht müde zu wiederholen, dass die deutsch-polnischen Beziehungen eminent wichtig seien, und das nicht nur in bilateraler Hinsicht zweier Nachbarländer mit einer sehr langen Grenze und einer sehr langen wie belasteten Geschichte. Ihnen komme eine ähnlich gelagerte Schlüsselrolle für die weitere Entwicklung der Europäischen Union zu wie den Beziehungen zwischen Deutschland und dem früheren "Erbfeind" Frankreich zu Beginn der europäischen Integration. Dabei sollen die Parlamente - der Sejm und der Bundestag - "ergänzend" zu den Kontakten zwischen den Regierungen eine bedeutende Rolle spielen, so Lammert, zumal sie eine größere Kontinuität der Kontakte garantieren und ein breiteres Spektrum an Meinungen erfassen, da auch die jeweilige Opposition am Gesprächstisch vertreten sei.
Ein sensibles Unterfangen - angesichts der Spannungen und Missverständnisse im vergangenen Jahr und der ungewöhnlich scharfen Töne und Vorwürfe Warschaus an Berlin in jüngster Zeit. Und weil in politischen Beziehungen wie im "normalen" Leben Psychologie und Fingerspitzengefühl nicht zum Nachteil gereichen müssen, leuchtet es ein, dass man zunächst zu den einfachsten wie wirksamsten, wenn auch nicht unbedingt schmerzfreien Mitteln greift: Man trifft sich, so oft es geht, und spricht offen miteinander. Inzwischen kann man fast schon von einer Charmeoffensive zwischen den Parlamenten sprechen. Innerhalb von zwei Wochen haben sich Jurek und Lammert drei Mal getroffen: zu Arbeitsgesprächen in Warschau, dann in Stettin, wo sie eine Ausstellung über das Werk von Bernhard Heiliger eröffneten, und am 6. März in Berlin zur ersten gemeinsamen Sitzung der Präsidien beider Parlamente, die einen neuen Abschnitt der Beziehungen nach deutsch-französischem Vorbild etablieren soll. Auch die Vorsitzenden ausgewählter Ausschüsse - für Auswärtiges (Ruprecht Polenz und Pawel Zalewski), Europa (Kurt Bodewig und Karol Karski) - und der bilateralen Parlamentariergruppen (Markus Meckel und Jan Rzymelka) nahmen an den Gesprächen teil.
Als konkretes Ergebnis der Gespräche steht bereits fest, dass sich die Spitzenvertreter von Sejm und Bundestag in gleicher Zusammensetzung jährlich abwechselnd in Berlin und in Warschau treffen werden. Daneben wird die Zusammenarbeit zwischen den Ausschüssen intensiviert. Beide Parlamente wollen auch mehr für die gegenseitige Wahrnehmung von Geschichte, Nationalgefühlen und Mentalitäten von Polen und Deutschen tun. Als erster Schritt dahin wird auf Einladung Jureks eine gemeinsame Konferenz zu polnisch-deutschen Geschichtsbildern im niederschlesischen Kreisau stattfinden. Der Ort selbst - eine Stätte des deutschen Widerstandes gegen das NS-Regime - hat einen hohen Symbolwert. Dort hatten bereits 1989 der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl und der erste nichtkommunistische Regierungschef nach 1945, Tadeusz Mazowiecki, mit ihrer Umarmung ein Zeichen der Versöhnung gesetzt. Auf die Bedeutung dieser Symbolik hat Norbert Lammert in der Pressekonferenz nach der Sitzung hingewiesen: Anknüpfungspunkte und Gemeinsamkeiten statt Trennendes sollen in Kreisau im Vordergrund stehen, so der Bundestagspräsident. An der Konferenz werden neben den Parlamentspräsidien und den beteiligten Ausschussvorsitzenden je fünf namhafte Historiker und Publizisten aus Polen und Deutschland teilnehmen.
Die Anregung Jureks, die Rolle der Freiheits- und Unabhängigkeitsbewegungen in den ehemaligen Ostblockstaaten Europas in der Berliner Erklärung zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge hervorzuheben, wurde von der deutschen Seite aufgegriffen. Aus polnischer Sicht könnte Deutschland gerade als Bindeglied zwischen den alten und neuen EU-Mitgliedern eine wichtige Rolle spielen: "Deutschland ist einerseits ein westeuropäisches, andererseits ein mitteleuropäisches Land", das auch die Erfahrungen des Kommunismus mit den Ländern des ehemaligen Ostblocks teile, unterstreicht Karol Karski, Vorsitzender des EU-Ausschusses im Sejm und Mitglied in der größten Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS). "Das verbindet."
Zu den strittigen Themen gehörten wiederum die Fragen der individuellen Ansprüche Vertriebener auf Eigentum im heutigen Polen und die Förderung von Polnischunterricht in Deutschland. Jurek forderte wiederholt eine Erklärung der Regierungen beider Länder zur Gegenstandslosigkeit solcher Ansprüche. Dann ließen sich alle anderen schwierigen Fragen besser lösen, meinte auch Vizemarschall Janusz Dobrosz von der Partei "Liga Polnischer Familien" (LPR) nach der Sitzung.
Die Deutschen sprachen ihrerseits die im vergangenen Halbjahr aufgetretenen Schwierigkeiten bei der Finanzierung des Deutsch-Polnischen Jugendwerks an, das ebenfalls nach dem deutsch-französischen Vorbild funktioniert. "Die Mittel dürfen nicht nur quartalsweise bewilligt werden, weil dies keine Planungssicherheit ermöglicht", monierte Ruprecht Polenz (CDU). Auch Kurt Bodewig (SPD) thematisierte dieses Problem. Bewusst habe er in der Sitzung außerdem die polnische Medienberichterstattung zur Sprache gebracht, so der Sozialdemokrat. Sie entspreche "in keinster Weise der Herzlichkeit, die ich bei meinen Besuchen im Kontakt mit den normalen Bürgern erfahren habe".
Unisono unterstrichen Deutsche wie Polen die ausgesprochen gute Atmosphäre und Offenheit der Gespräche. Komplimente gab es besonders polnischerseits: "In unserer Empfindung waren wir keine Kontrahenten, sondern Teilnehmer eines gemeinsamen Prozesses", erzählte Karol Karski. "Es war ein wirklich sehr gutes, sehr offenes Gespräch", so Pawel Zalewski (PiS). Es sei ein gutes Forum gewesen, eigene Argumente zu präsentieren. Auch wenn man am Ende bei der eigenen Meinung bleiben sollte, biete dieses Forum eine Möglichkeit, die Gegenargumente zu verstehen und zu achten. "Das ist wichtig." Bei früheren Treffen dieser Art habe man schwierige Probleme gemieden.
Auch in Polen selbst gab es ein "ganz gutes Presseecho", so die Beobachtung der deutschen Botschaft in Warschau. Und das trotz des Wirbels um die Äußerung der BdV-Präsidentin Erika Steinbach - in Polen sehr bekannt und unbeliebt bis angefeindet. Auf polnischer Seite habe man zurzeit offenbar "keinerlei Interesse, das Verhältnis zu Deutschland zu entspannen". "Die Parteien, die in Polen regieren, sind mit den deutschen Parteien Republikaner, DVU und NPD vergleichbar", so Steinbach in einem Interview. In Deutschland musste die Christdemokratin heftige Kritik einstecken, was in Polen mit Genugtuung registriert wurde. Dennoch waren die Reaktionen anders als bisher gemäßigt. Die Tageszeitung "Rzeczpospolita" sprach vom Tauwetter und kritisierte eher die polnischen Oppositionspolitiker, Bronislaw Komorowski (PO) und Wojciech Olejniczak (SLD) - beide im Präsidium des Sejm -, die nicht nach Berlin gekommen sind. "Als im vergangenen Jahr der Gipfel des Weimarer Dreiecks platzte und kürzlich in München Polen nicht vertreten war, kritisierte die Opposition den Präsidenten und die Regierung sehr scharf. Nun muss man laut fragen, wieso die Vizemarschälle Komorowski und Olejniczak nicht alles getan haben, um an diesem für die deutsch-polnischen Beziehungen so wichtigen Dialog teilzunehmen."
Die Dialogstrategie scheint also zu funktionieren: "Je öfter Marek Jurek und ich uns treffen, desto mehr mögen wir uns", verriet Lammert. Und auch generell seien die Beziehungen "zunehmend freundschaftlich", sagte der Bundestagspräsident in einem Studio- gespräch mit seinem polnischen Amtskollegen im Parlamentsfernsehen.
Dass dies stimmt, bestätigen auch polnische Parlamentarier. Der Sejm-Marschall sei inzwischen persönlich von Lammert überzeugt und "beginnt, zusammen mit ihm gewisse neue Relationen zu gestalten", beschreibt Jan Rzymelka das Verhältnis. Lob für das deutsch-polnische Tandem spendet auch der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Sejm, Pawel Zalewski (PiS): "Lammert und Jurek besitzen die Fähigkeit, Gespräche über schwierige und auf beiden Seiten kontroverse Themen so zu führen, dass die Diskussion einen sehr inhaltsvollen, kompetenten und dabei freundschaftlichen Charakter hat. Das ist ein gutes Zeichen für die Zukunft."
So gesehen gibt es nach der Stotterphase eine gute Chance, dass der deutsch-polnische Motor bald anspringt.