TÜRKEI
Neuer Präsident soll am 22. Juli direkt gewählt werden. Gute Erfolgschancen für Gül.
Alles blickt auf den Präsidenten. Nach den politischen Tumulten in der Türkei in den vergangenen Wochen wird nun der scheidende Staatschef Ahmet Necdet Sezer entscheiden, wie es weitergeht. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und seine islamisch geprägte Regierungspartei AKP dringen trotz einiger Rückschläge in jüngster Zeit darauf, Außenminister Abdullah Gül zum neuen Staatspräsidenten zu machen. Erdogans Gegner im Lager der Kemalisten wollen das unbedingt verhindern. Eine neue Runde im türkischen Machtkampf beginnt, und noch ist ungewiss, wer ihn gewinnen wird.
Mit Hilfe der kleinen bürgerlich-konservativen Oppositionspartei ANAP setzte Erdogans Regierungspartei AKP im Parlament ein Paket von Verfassungsänderungen durch, das unter anderem die Direktwahl des Präsidenten durch das Volk vorsieht. Die AKP hatte diesen Vorschlag eingebracht, nachdem die Wahl im Parlament vom Verfassungsgericht blockiert worden war. Wenn Staatspräsident Sezer den Änderungen zustimmt, soll gleichzeitig mit der vorgezogenen Parlamentswahl am 22. Juli erstmals eine Direktwahl für den Präsidenten stattfinden; nach Meinungsumfragen hätte Gül dabei sehr gute Erfolgschancen. Doch Sezer zählt zu den eingefleischten Gegnern der Erdogan-Partei. Deshalb wird er vermutlich versuchen, das Inkrafttreten der Verfassungsänderungen so lange wie möglich hinauszuzögern, um die Direktwahl am 22. Juli zu verhindern. Fest steht schon jetzt: Das Ringen um die Besetzung des Präsidentenamts wird eines der entscheidenden Themen im Parlamentswahlkampf sein. Erdogans AKP sei die Polarisierung der Öffentlichkeit durch den Präsidentenstreit ganz recht, sagt der angesehene Kolumnist Murat Yetkin: Ein klassischer Lagerwahlkampf deutet sich an. Auf der einen Seite steht die Erdogan-Regierung, auf der anderen Seite formiert sich die Gruppe der Kemalisten, denen die kleinbürgerlich-frommen Anhänger des Ministerpräsidenten ein Graus sind und die in der AKP eine islamistische Gefahr für die Republik sehen. Die Kemalisten konnten ihre Anhänger erfolgreich zu Großdemonstrationen gegen die Regierung mobilisieren. Neuesten Umfragen zufolge könnte die Rechnung der AKP dennoch aufgehen. Demnach kann die AKP mit bis zu 41 Prozent der Stimmen rechnen - das wären sieben Prozentpunkte mehr als bei ihrem Wahlsieg im November 2002. Dagegen bleibt die kemalistische Partei CHP weit unter 20 Prozent. Als dritter Block hat demnach das konservative Wahlbündnis von ANAP und der Partei DYP Chancen auf einen Einzug ins neue Parlament. Wenn die Umfragen Recht behalten, hätten die Regierungsgegner mit ihrem politischen Feldzug gegen einen AKP-Präsidenten das Gegenteil von dem erreicht, was sie erreichen wollten: Erdogan wäre noch stärker als zuvor.
Auf den Marktplätzen Anatoliens kann Erdogan mit den wirtschaftlichen Erfolgen seiner Regierung werben, doch sein außenpolitisches Glanzstück - der erfolgreiche Start der EU-Beitrittsverhandlungen für die Türkei nach 40 Jahren im europapolitischen Wartezimmer - könnte sich in den nächsten Wochen noch zu einer Last für den Regierungschef verwandeln.
Sollte der neue französische Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy seine Drohung wahrmachen und die EU-Verhandlungen mit Ankara torpedieren, wäre das für türkische Nationalisten ein willkommener Anlass, Erdogan als naiven Amateur hinzustellen, der den Europäern alle möglichen Wünsche erfüllt hat und dafür am Ende auch noch gedemütigt wird. Ein solcher "Sarkozy-Faktor" könnte unabsehbare Folgen für den Wahlkampf haben.