Gesundheit
Union und SPD ringen um die Reform - und das, obwohl sie mit der Zukunft der Finanzierung den dicksten Brocken ohnehin schon ausgeklammert haben
Die Idee klingt gut: Menschen, die Pflege selbst benötigen oder für Angehörige organisieren müssen, sollen nicht mehr von Pontius zu Pilatus laufen, um alles Wichtige in Erfahrung zu bringen und Leistungsbewilligungen zu erhalten. Auf dieser Überlegung gründet der Vorschlag von Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) und ihren Sozialdemokraten, so genannte Pflegestützpunkte einzurichten. Wohnortnah soll es 4.000 Anlaufstellen für jeweils rund 20.000 Menschen geben. Krankenkassen, Kommunen, Heime, ambulante Dienste und Ehrenamtliche sollen hier zusammenarbeiten.
Aber - wie so oft im Leben und insbesondere im Gesundheitssektor - ist es so einfach nicht, eine einleuchtende Idee in die Wirklichkeit zu übersetzen. Ein beredtes Beispiel dafür boten die öffentlichen Anhörungen zur geplanten Pflegereform. Insgesamt elf Stunden, verteilt auf vier Sitzungen, hatte sich der federführende Gesundheitsausschuss des Bundestages Zeit genom- men, den Entwurf der Bundesregierung für ein "Pflege-Weiterentwicklungsgesetz" ( 16/7493) sowie die Anträge der Oppositionsfraktionen FDP ( 16/7491), Die Linke ( 16/7472) und Bündnis 90/Die Grünen ( 16/7136) mit Experten zu erörtern. Zu Spitzenzeiten standen 66 Verbände und zehn Einzelsachverständige Rede und Antwort.
Gegen die Pflegestützpunkte erhob der Leiter des Instituts für Arbeitsrecht an der Universität Bonn, Gregor Thüsing, erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken. Es bestehe die "Gefahr der Mischverwaltung". Erst Ende Dezember habe das Bundesverfassungsgericht eine solche Struktur im Fall der Arbeitsgemeinschaften aus Kommunen und Arbeitsagenturen zur Umsetzung der Hartz-Reformen beanstandet, erinnerte der Professor. Auch die Krankenkassen als Träger der Pflegeversicherung zeigten sich skeptisch. Der stellvertretende Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Herbert Reichelt, betonte zwar, dass ein "individueller Rechtsanspruch auf Pflegeberatung dringend geboten" sei. Es sei aber "mehr als fraglich", ob dazu der "Aufbau völlig neuer Strukturen" sinnvoll sei. Auch sei der von der Regierung genannte Starttermin, der 1. Januar 2009, "eher unrealistisch". Die Vizechefin der Bundesärztekammer, Cornelia Goesmann, fügte hinzu, die Stützpunkte dienten ausschließlich der Organisation und Verwaltung von Leistungen. Der eigentlichen Versorgung könnten so beträchtliche Mittel entzogen werden. Außerdem sei das Beratungsangebot bereits heute in vielen Bundesländern ordentlich, wandte die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege ein. Kurzum: Das Rad müsse nicht neu erfunden werden, wie Dieter Lang vom Verbraucherzentrale Bundesverband zusammenfasste.
Das war Wasser auf die Mühlen der Union, die die Pflegestützpunkte ablehnt: "Schiffchen versenkt", frohlockte etwa der CDU-Pflegeexperte Willi Zylajew am 24. Januar im Bundestag. Die CDU/CSU-Fraktion will die Pflegestützpunkte nicht, weil sie hohe Kosten und zusätzliche Bürokratie bedeuteten. Stattdessen schlägt sie die Einführung von Beratungsgutscheinen vor. Unions-Fraktionsvize Wolfgang Zöller (CSU) machte der SPD dann in der vergangenen Woche einen Kompromissvorschlag. Einige wenige Zentren sollten zwei Jahre lang ausprobiert werden. Erst dann solle über eine flächendeckende Einführung entschieden werden. Die Ablehnung der SPD kam prompt - wenngleich grundsätzliche Kompromissbereitschaft signalisiert wurde. Im Plenarsaal verwies SPD-Pflegeexpertin Hilde Mattheis auf Zustimmung von Praktikern aus den Kommunen und von Betroffenenverbänden. Tatsächlich sagte der Sozialdezernent des Kreises Siegen-Wittgenstein, Peter Weskamp, in der Anhörung, mit dem Entwurf der Regierung werde erstmals eine nachhaltige und qualitative Beratung möglich. Auch die Aktion Psychisch Kranke unterstützte die SPD-Linie: Gerade für Menschen, die selbst nicht gut in der Lage seien, ihre Pflege selbst zu organisieren, sei eine leistungsübergreifende Anlaufstelle mit regionalem Bezug wichtig. Unwidersprochen prophezeite Zylajew dem Koalitonspartner lange Diskussionen zu diesem Thema.
Allerdings sind die Pflegestützpunkte zwar ein wichtiger, aber nicht der einzige Streitpunkt von Union und SPD in Sachen Pflegereform, die zum 1. Juli 2008 in Kraft treten soll. So ist die Union gegen Lohnersatzleistungen für die zehntägige Freistellung für die Pflege von Angehörigen, für die sich die SPD nach wie vor einsetzt, auch wenn dies nicht im Gesetzentwurf steht.
Der Gesprächsbedarf zwischen den Koalitionspartnern ist also groß - und das, obwohl das zentrale Streitthema, die Zukunft der Finanzierung, ohnehin schon ausgeklammert ist. Das wiederum erzürnt Experten wie den Freiburger Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen. Der Gesetzentwuf der Regierung habe "mit einer Nachhaltigkeitsreform gar nichts, aber auch gar nichts zu tun", schimpfte er in der vergangenen Woche. Für ihn wäre das Sinnvollste, die Pflegeversicherung auslaufen zu lassen. "Das Vernünftigste wäre einzusehen, dass die Pflegeversicherung ein groß angelegtes Erbschaftsbewahrungsprogramm für den Mittelstand ist", sagte der streitlustige Pflegeexperte und unterstützte damit den FDP-Antrag.
Auch die Union würde die Pflegeversicherung gern schrittweise in ein "kapitalgedecktes solidarisches Prämienmodell" umbauen. Ganz anders die Vorstellungen der SPD, die eine "solidarische Bürgerversicherung" auch für die Pflege anstrebt und auch einen finanziellen Ausgleich der privaten an die solidarische Pflegeversicherung noch nicht abgeschrieben hat. Damit bewegt sich die SPD auf einer Bahn mit den Grünen und der Linksfraktion, was in der Anhörung Alfred Spieler zu der Bemerkung veranlasste, er bedauere, dass die "strukturelle Mehrheit" für eine Bürgerversicherung im Bundestag derzeit nicht realisiert werden könne.
Während die Therapieempfehlungen auseinander gehen, sind sich Politiker und Experten in der Diagnose durchaus einig. Die Kosten für die Pflege werden angesichts der demografischen Entwicklung steigen, mithin ist ohne eine Finanzstrukturreform eine weitere Anhebung der Beitragssätze unvermeidlich. Die Prognosen der Experten für das Jahr 2050 unterscheiden sich in ihrer Höhe je nach den getroffenen Annahmen: auf drei bis vier Prozent kommt der Bremer Gesundheitsökonom, Professor Heinz Rothgang. Auf vier bis sieben Prozent könnte der Beitragssatz aus Sicht von Raffelhüschen klettern. Derzeit liegt der Beitragssatz für Versicherte mit Kindern bei 1,7 Prozent. Die Bundesregierung selbst bleibt bei ihrer finanziellen Vorausschau unter den Expertenschätzungen. Im Vierten Bericht über die Entwicklung der Pflegeversicherung, den das Parlament am 24. Januar als Unterrichtung ( 16/7772) in den Gesundheitsausschuss überwies, rechnet sie mit einem Beitragssatz von 2,5 Prozent im Jahr 2050.
Um die Frage zu klären, welcher der Vorschläge zur künftigen Pflegefinanzierung umgesetzt wird, wird die jetzige kleine Reform, so sie verabschiedet wird, etwas Luft schaffen. Die zum 1. Juli geplante Beitragssatzerhöhung führt zu jährlichen Mehreinnahmen in Höhe von rund 2,5 Milliarden Euro. Damit könne - bleibt Deutschland vor einem konjunkturellen Einbruch verschont - die Finanzierung der Pflegeversicherung bis 2014 gesichert werden, bestätigten die meisten Experten. Nach der Reform ist vor der Reform. Professor Thüsing gab den Abgeordneten dazu einen Rat zur besseren Verständlichkeit. Im jetzigen Gesetzentwurf habe er Sätze mit 62 Wörtern gefunden, sagte er. Nach dem Handbuch der Rechtsförmlichkeit sollten es aber nicht mehr als 22 Wörter sein.