Strukturwandel
Das Nokia-Aus ist ein schwerer Rückschlag für das Ruhrgebiet. Die Region muss neue Wege suchen.
Eine zweite Nokia-Geschichte ist im Ruhrgebiet nie ausgeschlossen. "Auch in Zukunft können Politiker nicht Nein sagen, wenn eine Firma mit Arbeitsplätzen winkt. Das nächs-te Unternehmen, das Jobs verspricht, wird wieder herzlich mit Subventionen empfangen werden." Dies prophezeit Franz Lehner, Leiter des Instituts für Arbeit und Technik in Gelsenkirchen. Deswegen sei es naiv, nun einfach härtere Bedingungen an die Firmen zu stellen, die staatliche Mittel kassieren. "Irgendwo finden sie immer einen, der ihnen das Geld hinterher schmeißt." Die Folgen des abrupten Nokia-Weggangs schätzt Lehner als hart ein. "Er nimmt den Menschen vor allem das Vertrauen, das sie in die neuen Unternehmen im Revier gesteckt hatten", so der Soziologe.
Dabei müssen die knapp sechs Millionen Menschen im Ruhrgebiet ihre Hoffnungen in die neu angesiedelten Firmen stecken - die Traditionsfabriken haben sich zurückgezogen. Vor 50 Jahren arbeiteten hier noch 600.000 Menschen im Steinkohlebergbau, heute sind davon 30.000 Jobs übrig geblieben. Hier sind so viele Menschen arbeitslos, wie sonst nur in Ostdeutschland, auch die Quote von Hartz-IV-Empfängern ist überdurchschnittlich hoch.
Das Revier, ausgesaugt von der Industrie und wie eine leere Hülle zurückgelassen, hat sich immer wieder kaufen lassen. In den vergangenen zehn Jahren wurden 120 Firmen im Ruhrgebiet mit Landesmitteln gepuscht. Der finnische Weltkonzern Nokia erhielt mit insgesamt knapp 90 Millionen Euro die größte Summe. Nur Nokia-Konkurrent BenQ, früher Siemens, hatte ebenfalls eine zweistellige Millionensumme erhalten, bevor das Handyunternehmen so schnell aus Bocholt verschwand wie Nokia jetzt aus Bochum. Und der Verkaufssender QVC an der Ruhr-Universität erhielt 17 Millionen Euro, heute arbeiten dort knapp tausend Menschen und nehmen telefonische Bestellungen von Antifaltencremes und Spannbetttüchern auf. Die allermeisten haben Zeitverträge. "Man kann von einem Callgirl keine Liebe erwarten", sagt IAT-Leiter Lehner über die Entscheidung von Nokia. Wenn Firmen allein mit Geld angelockt würden, gingen sie eben auch für Geld wieder woanders hin.
Seit dem Ende der europäischen Förderung des gesamten Ruhrgebiets zum Jahreswechsel 2006/2007 fließt das Brüsseler Geld langsamer. Künftig können Projekte in jeder Region Nordrhein-Westfalens um das Geld konkurrieren. NRW-Wirtschaftsministerin Christa Thoben (CDU) will deshalb Wettbewerbe in Zukunftsbranchen wie der Energiewirtschaft, der Logistik oder der Medizintechnik ausschreiben, um die insgesamt rund 4 Milliarden Euro für die Ziel-2-Regionalförderung sowie die Sozial- und Landwirtschaftsförderung zu verteilen. "Maximale Transparenz" verspricht sie.
Die vielen Leerstellen in der NRW-Wirtschaft haben zu immer neuen Utopien von Politikern und Managern geführt. Erst im Herbst forderte die Wirtschaft im Ruhrgebiet die Verdoppelung der Forschungsausgaben in der Region und die Prüfung eines neuen Großflughafens für Nordrhein-Westfalen. Der einzige deutsche Ballungsraum mit Potenzial zur Weltregion müsse sich so für den globalen Wettbewerb mit Schanghai und London rüsten, sagte der Moderator des Initiativkreises Ruhrgebiet, Evonik-Chef Werner Müller, bei der Vorstellung eines "Zukunftsvertrages Ruhr". Beide Forderungen wurden allerdings schon jahrzehntelang und aus Geld- und Investorenmangel bisher erfolglos erhoben. Genauso musste die Idee einer Magnetschwebebahn wieder eingestampft werden.
Bergmänner und Stahlgießer verschwinden langsam von der Bildfläche. Das ist ein großer Verlust - für die eine Hälfte der Bevölkerung: Frauen konnten in diesen Branchen sowieso nie Fuß fassen. Sie hatten im Vergleich zu anderen Regionen Deutschlands immer die niedrigste Beschäftigungsquote. Seit zwanzig Jahren steigt sie wieder. Das Revier und seine Städte suchen ihren wirtschaftlichen Erfolg längst nicht mehr in der Ansiedlung von großen Firmen. Als in den 1960er-Jahren Opel in Bochum angeworben wurde, kamen mit dem Autohersteller gleich mehr als 20.000 Jobs ins Revier - heute sind es nur noch halb so viele, und die Mitarbeiter kämpfen jedes Jahr erneut um ihre Stellen. Kleinere und mittelständische Betriebe sollen nun ins Revier gezogen werden. In der Dortmunder MST-Factory beispielsweise, erbaut auf einem alten Industriegelände, können Start-ups der Mikrotechnik relativ günstig Labore, Geräte und Räume anmieten. Seit drei Jahren steht das Angebot, mittlerweile sitzen dort ein knappes Dutzend Firmen. Sie entwickeln Mikrowellensensoren oder Mikrozerstäuber für Asthmapatienten. "Wir bieten ihnen eine gute Zusammenarbeit mit verwandten Firmen und eine nahe Universität", sagt Michaela Franzes von der Stadt Dortmund.
Kulturhauptstadt Es scheint, als würden die Hochschulen zu den Siegerinnen des Strukturwandels. Zwar konnte die Bochumer Ruhr-Universität (RUB) die letzte Hürde zur Exzellenz-Uni nicht nehmen. Dass sie aber erst in der letzten Runde ausgeschieden ist, wurde mit Sekt begossen. Auch die Kulturhauptstadt 2010 ist ein Hoffnungsschimmer. Millionen von Touristen werden erwartet. Sie können dann ehemals tausend Grad heiße Stahlöfen begehen, die wie in Duisburg zu einem Landschaftspark mit kilometerweit sichtbaren Lichtinstallationen umgewandelt wurden oder Opern in der Jahrhunderthalle Bochum hören, einer nun gläsernen Gaskraftzentrale der Stahlindus-trie. Und auch Soziologe Franz Lehner hat seinen Optimismus für das Ruhrgebiet noch nicht verloren. Der gebürtige Schweizer hat in Mannheim, Heidelberg und Harvard geforscht, aber er ist inzwischen zu einem Fan des Ruhrgebiets geworden. Kaum eine Region in Deutschland habe soviel Rückschläge einstecken müssen, sagt Lehner. "Wir haben schon viel geschafft."