Weissrussland
Der Diktator sitzt noch fest im Sattel. Die Wirtschaft entgleitet ihm aber zunehmend
Vor einem Jahr gab es nicht wenige Experten, die eine baldige wirtschaftliche Krise über Weißrussland hereinbrechen sahen, eine Krise, in deren Folge der autokratische Präsident Alexander Lukaschenko stürzen würde. Hintergrund war die im Januar 2007 von Russland angeordnete Preiserhöhung des Gazprom-Gases, für das Weißrussland nun 100 US-Dollar pro 1.000 Kubikmeter statt des früheren Spottpreises von 46 US-Dollar berappen muss. Damit kappte Russland seine indirekten Subventionen für das Lukaschenko-Regime, das nun zwar etwas orientierungslos hin und her taumelt, aber noch nicht gefallen ist.
Lukaschenko scheint, ganz im Gegenteil, sein autoritäres Machtgefüge nach wie vor im Griff zu haben. Das fußt nicht nur auf Repressionen und der Unterdrückung von Kritikern, sondern vor allem auf einem "hervorragenden Management eines quasi feudalen Systems, in dem mehrere Clans auf verschiedenen Ebenen um die Zuneigung des Präsidenten konkurrieren", erklärt der Journalist Ales Kudritzky, der dennoch die Meinung vertritt, dass das Regime momentan alles andere als stabil sei.
"Das sieht man daran, wie Lukaschenko zeitweise zwischen Russland und dem Westen manövriert. Auch die Unzufriedenheit innerhalb des Landes wächst." Aber eine Öffnung, so glaubt er, werde es nicht geben. "Denn für Lukaschenko ist der Machtfaktor alles. Den wird er sicher nicht teilen."
Wie Umfragen des Forschungsinstitutes NICEPI zeigen, bestimmten Ängste vor Preiserhöhungen und dem sozialen Abstieg die Stimmung unter der weißrussischen Bevölkerung 2007 wie lange nicht mehr. Dennoch gaben im Dezember immerhin noch über 50 Prozent der Befragten an, dem Präsidenten zu vertrauen. Dagegen sagten über 58 Prozent der Befragten, dass sie der parteipolitischen Opposition nicht vertrauen würden. Sicherlich kann die Opposition sich nicht in den Massenmedien präsentieren. Einen freien Wettbewerb der Ideen, wie er in einer pluralistischen Demokratie üblich ist, gibt es in Weißrussland nicht. Die Keime einer solchen Entwicklung wurden von Lukaschenko seit 1994 systematisch zerstört. Aber darüber hinaus sind diese Zahlen mehr als beunruhigend für alle diejenigen, die auf eine baldige Demokratisierung in Weiß- russland hoffen.
Für die Opposition, die ohnehin als notorisch zerstritten und schwach gilt, wäre 2007 ein sehr gutes Jahr gewesen, um sich als eine echte Alternative zu beweisen. Denn auch Lukaschenko scheint nicht zu wissen, wie er seine Volkswirtschaft unter den Vorzeichen eines höheren Gaspreises auf die Zukunft vorbereiten will, ohne seine Macht zu verlieren. Im Dezember besorgte er sich von Russlands Finanzminister Alexander Kudrin einen gewaltigen Kredit über 3,5 Milliarden US-Dollar und begab sich so weiter in die Abhängigkeit des Kremls. Dennoch wird sich Lukaschenko bald mit der Modernisierung seiner Volkswirtschaft beschäftigen müssen. Denn schon für das laufende Jahr sagen Experten eine deutlich steigende Inflation voraus.
Die Opposition verfügt zwar über ein programmatisches Wirtschaftspapier, das während des Kongresses der vereinten demokratischen Kräfte im Mai 2007 erneuert wurde. Aber auf die Herausforderungen der Zeit gebe es darin keine Antworten, kritisiert der Politologe Waleri Karbalewitsch vom Minsker Institut Strategija. "Es gibt in den neuen Dokumenten keinen Hinweis darauf, dass man die neue Situation mit Russland und die Frage der Energieressourcen wirklich versteht. Beim Studium der Ideen bekommt man den Eindruck, dass über irgendein abstraktes Land gesprochen wird. Ein Land, das mit dem heutigen Weißrussland nicht viel gemein hat."
Unter den Oppositionellen des Landes kursiert häufig die Vorstellung, dass "das Volk noch nicht reif" für eine Veränderung sei, dass ihre Landsleute nicht wissen könnten, was sie wollen, weil ihnen Lukaschenko keine Möglichkeit gebe, sich eine unabhängige Meinung zu bilden, weil er Ängste schüre und damit die grundsätzlich passive Haltung seiner Landsleute ausnutze und fördere. Darin liegt ohne Zweifel ein Stück Wahrheit. Einerseits. Andererseits begeht die Opposition aber auch einen schweren Fehler, wenn sie die Weißrussen nicht ernst genug nimmt. Oppositionspolitiker unterliegen häufig dem Irrglauben, dass sich die Weißrussen, wenn sich die Verfassung am herbeigesehnten Tag X urplötzlich ändert, hinter sie und die Errungenschaften der parlamentarischen Demokratie stellen würden. Umfragen beweisen aber, dass die Mehrheit der Bevölkerung den Übergang zu einer parlamentarischen Demokratie nicht unterstützt. "Es ist verständlich, dass die Opposition in ihren Ideen von einem schwachen Präsidenten ausgehen möchte", urteilt Karbalewitsch. "Aber im Moment bedeutet dies auch, dass man sich von der Gesellschaft weiter isoliert."
Der Realitätsverlust zeigt sich auch darin, dass man auf dem Mai-Kongress beschloss, einen Dialog mit dem Regime anstreben zu wollen. Allerdings hat die Opposition hierfür keinerlei Druckmittel in der Hand. Warum sollte sich der, der sich als "ultimative Alternative" versteht, mit der Volksfront BNF oder der Vereinigten Bürgerpartei an einen Tisch setzen? In Lukaschenkos Welt entscheidet nur einer: Lukaschenko.
Sein Schicksal hängt nicht von der Opposition ab. Es hängt am seidenen Faden der wirtschaftlichen Entwicklung. Experten wie Karbalewitsch sind aber nicht der Meinung, dass eine Öffnung des Marktes unbedingt, wie weitläufig angenommen, die Entwicklung einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft zur Folge haben müsste. Für Weißrussland, das der Philosoph Pjotr Rudkowskij als "eine Autokratie modernen Typs" bezeichnete, hält er diese Entwicklung sogar für unwahrscheinlich und verweist auf Vietnam und China.