ANNEMARIE RENGER
Die erste Bundestagspräsidentin war eine prägende Persönlichkeit in der deutschen Nachkriegspolitik. Ein Nachruf
Von allen ehrenden Nachrufen auf Annemarie Renger sticht einer besonders hervor, der von Helmut Schmidt. Die am 3. März im Alter von 88 Jahren gestorbene ehemalige Präsidentin des Deutschen Bundestages, sagte der Ex-Bundeskanzler, sei "eine in der Politik selten gewordene Führungskraft" gewesen. Und: "Wer sie erlebt hat, wird mir zustimmen - sie hat sich um unser Land verdient gemacht." Schmidts Einschränkung ("Wer sie erlebt hat…") war gewiss kein Zufall. Denn, in der Tat, die Zahl der Weggefährten ist klein geworden. Das gilt in erster Linie für jene Sozialdemokraten, die noch wie Annemarie Renger das Scheitern der Weimarer Republik, Nazi-Terror und Krieg, das Wiedererstehen der SPD im Westen, aber auch die erneute Unterdrückung einschließlich Zwangsvereinigung mit der KPD zur SED im Osten erlebt haben. Es gilt aber auch für die einstmals große Schar innerhalb und außerhalb des Parlaments, bei der "die Renger" über Parteigrenzen hinweg Freunde und Anerkennung fand.
Annemarie Renger verkörperte gleich mehrfach deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts. Da ist einmal das persönliche Schicksal, das sie mit vielen Frauen jener Zeit zu teilen hatte - 1938 Heirat, 1944 (erst 25 Jahre alt) Witwe mit einem kleinen Sohn. Da ist, zweitens, die sozialdemokratische Familientradition, der sie sich zeitlebens verpflichtet fühlte. Und da ist schließlich ihre Rolle im Parlament. Mit ihrer Wahl zur Bundestagspräsidentin am 13. Dezember 1972 war sie nicht nur das erste SPD-Mitglied, sondern auch die erste Frau auf diesem Posten. Ein solches Leben formt einen Menschen. Aber es stählt einen auch - besonders, wenn man einen starken Charakter mitbringt. Wegen ihres sozialdemokratischen Familienhintergrunds hatte die junge Annemarie 1933 das Augusta-Lyzeum in Berlin verlassen und sich anschließend als Stenotypistin durchschlagen müssen. Der Krieg raubte ihr nicht nur den Ehemann, sondern auch drei ihrer Brüder.
Es war ein Zeitungsartikel über eine Rede, der sie spontan dazu brachte, sich bei dem Mann als Mitarbeiterin zu bewerben, der letztendlich zur prägenden Figur ihres Lebens wurde: Kurt Schumacher. Nie fehlte, wenn über Annemarie Renger berichtet wurde, das zutiefst berührende Bild des arm- und beinamputierten, im Konzentrationslager schwer geschundenen ersten Nachkriegsvorsitzenden der SPD, wie er - ihr den linken Arm um die Schulter legend - von ihr beim Gehen gestützt wird. Die junge, blonde Frau war für ihn mehr als Sekretärin; sie war Reisebegleiterin, Vertraute, engste Gefährtin und Haushälterin Schumachers bis zu seinem Tod 1952. "Das, was ich bin", hatte sie später einmal bilanziert, "bin ich durch ihn."
In jener Zeit bildete und verfestigte sich das Welt-, vor allem aber auch das SPD-Bild von Annemarie Renger. Das von Gradlinigkeit, Partei- wie Prinzipientreue, Disziplin und Solidarität. Kurt Schumacher hatte in der erwähnten Rede vom Lebensrecht des deutschen Volkes gesprochen, als die Menschen den Begriff "Nation" nicht einmal mehr zu denken wagten. Der Mann, der zehn Jahre lang den Folterknechten der Nazis in den Konzentrationslagern getrotzt hatte, wagte es, den Siegern die Stirn zu bieten und sogar die deutschen Soldaten gegen kollektive Schuldzuweisungen in Schutz zu nehmen.
Das beeindruckte die junge Frau genauso wie die Unbedingtheit, mit der ihr großes Vorbild für die nationale Einheit focht und damit zugleich erbittert gegen die Kommunisten stritt, die im Osten des besetzten Vaterlandes mit allen Mitteln der Unterdrückung eine neue Diktatur errichteten. Ob Gedanken daran am Abend des 9. November 1989 auf Annemarie Renger einstürmten? Sie leitete zu dem Zeitpunkt im Bonner "Wasserwerk" die Parlamentssitzung, als dem CSU-Abgeordneten Karl-Heinz Spilker ein Zettel ans Rednerpult gereicht wurde und er die Meldung verlas, dass in Berlin die Mauer gefallen sei. Doch welche Jahre und was für Ereignisse lagen zwischen diesem epochalen Ereignis und den Anfangszeiten mit Kurt Schumacher!
37 Jahre - von 1953 bis 1990 - war Renger Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Gewiss, die Tür ins Bonner Parlament war ihr zunächst von Schumachers Nachfolger Erich Ollenhauer geöffnet worden. Aber der danach folgende Weg in der Politik, oft genug steinig, bis hinauf ins protokollarisch zweithöchste Amt dieser Republik, musste von ihr selbst bewältigt werden. Überzeugendstes Beispiel: Als die SPD aus den Wahlen 1972 mit Willy Brandt erstmals als stärkste Partei hervorging und damit den Vorsitz im Bundestag beanspruchen durfte, schlug sich zur Verblüffung aller in der neuen Fraktion Annemarie Renger selbst für dieses Amt vor. "Ja, glauben Sie denn", sagte sie dazu später einmal in einem Interview, "man hätte mich sonst genommen?" Damals waren gerade mal fünf Prozent der sozialdemokratischen MdB's Frauen!
Als Annemarie Renger, lange nach ihrem Ausscheiden aus der aktiven Politik 1990, das Fazit zog: "Ich habe in dieser Zeit erreicht, was ich wollte. Es ist bewiesen, dass eine Frau das kann", da klang neben Stolz auch eine gehörige Portion Trotz durch. Wer hatte, offen oder hinter vorgehaltener Hand, nicht alles Vorbehalte gegen die elegante, allzeit ondulierte Genossin mit dem Hang zu schellen Sportwagen, teuren Leopardenfellmänteln und aufwendigen Empfängen geäußert. Willy Brandt war sie außerdem zu rechtslastig und zu wenig intellektuell, Herbert Wehner spottete giftig über ihr gepflegtes Äußeres, und auch Helmut Schmidt glaubte anfangs, sie sei ein politisches Leichtgewicht.
In der SPD macht immer noch und gern der Begriff "Parteisoldat" die Runde. Tatsächlich trifft er auf wenige dort so sehr zu wie auf Annemarie Renger - obwohl (oder vielleicht gerade weil) er an deren so sehr gestylten äußeren Erscheinung abglitt. Doch immer wenn es galt, Flagge zu zeigen, erwies sich, wie sehr der Glaube an die sozialdemokratischen Werte (wie sie sie sah) bei ihr verankert war. Oder besser: Die Vorstellung davon, wie und was die Partei sein sollte, nämlich der bleibende Hort von Treue, Verlässlichkeit, Solidarität und Disziplin. Die Genossin drückte sich nicht, als 1974 von ihr verlangt wurde, sich in der Bundesversammlung aussichtslos gegen den CDU-Mann Karl Carstens zur Bundespräsidentenwahl aufstellen zu lassen. Und mochten jüngere und sich als "fortschrittlich" titulierende "Parteifreunde" Rengers Bekenntnis zum traditionellen Flügel der SPD attackieren, so hielt sie unbeirrt ihr Banner hoch, auf dem "konservativ" mit dem Bewahren der ursozialdemokratischen Tugenden gleichgesetzt war. Das Fähnchen nach dem Zeitgeist hängen wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Andererseits hat sie aber auch nie ernsthaft versucht, Verständnis für jene in der SPD aufzubringen, die etwa links- oder grün-alternative Lösungen auf die Herausforderungen der Zeit finden.
"Ich bin ein Stück Sozialdemokratie, schon in der dritten Generation. Mir muss man nichts erzählen", war in den unruhigen 70er- und 80er-Jahren ihre Antwort an die aufbegehrenden Jungen. Dennoch hat Annemarie Renger nicht die Augen vor den politischen und gesellschaftlichen Veränderungen verschlossen. Bezeichnend dafür ist diese Antwort auf die Journalistenfrage, ob sie, die Persönlichkeiten wie Adenauer, Schumacher, Wehner oder Carlo Schmid erlebt habe, nicht jeden Abend verzweifeln müsse, wenn sie deren Nachfolger in der "Tagesschau" höre: "Ihre Frage ist den heutigen Politikern gegenüber unfair. Wer die NS-Zeit im Widerstand, im KZ oder in der Emigration erlebt hat und dann bei null anfangen musste, der hatte eine andere Chance, zur wirklichen Persönlichkeit zu werden. Große Probleme machen nun mal große Politiker. Und seien Sie sicher: Adenauer würde in der heutigen Zeit wohl genauso scheitern wie Schumacher."
Was wohl viele andere, auch jenseits der Parteigrenzen, bei der Nachricht vom Tode Annemarie Rengers empfunden haben, kleidete Franz Müntefering in die treffenden Worte: Mit ihr sei die "First Lady der SPD" gestorben.