Vladimir Sorokin
Der russische Schriftsteller über seinen Roman »Der Tag des Opritschniks« und den neuen Feudalismus in Russland
In Ihrem neuen Roman "Der Tag des Opritschniks" beschreiben Sie die düstere Zukunft Russlands im Jahr 2028. Das Land hat sich vom Westen abgeschottet und mit einer "Großen Russische Mauer" umgeben. Im Kreml herrscht eine Art Zar, der "Gossudar", mit Hilfe seiner Auserwählten, der "Opritschniki". Glauben Sie wirklich, dass das passieren wird?
Ein Bekannter meinte, ich hätte einen Bannspruch geschrieben, um zu verhindern, dass so etwas in Russland geschieht. Als ich an dem Buch arbeitete, habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht. Auf keinen Fall will ich in so einem Land leben. Natürlich will ich auch nicht, dass meine Kinder so etwas Absurdes erleben. Das Eigentümliche an Russland ist, dass sich seine Geschichte nicht nur als Farce wiederholt, sondern tatsächlich. Wenn in 20 Jahren ein neuer Iwan der Schreckliche den Thron besteigt, würde mich das nicht überraschen.
Ihr Roman kommt wie eine bunt bemalte "Matrioschka" daher. Allerdings ist die innere, zweite Puppe zum fürchten...
So wollte ich es. In einem Staat, dessen Existenz auf der Ausübung von Gewalt beruht, hat das Volk gelernt, mit Hilfe einer eigenen Lach-Kultur zu überleben. Als man die Köpfe im 16. Jahrhundert abschlug, lachte nicht nur die Henker lauthals, sondern auch das Volk. Dabei handelt es sich um eine Schutzreaktion. Darum nahm ich diese primitive, lustige Kirmesstimmung als Form, um das Schreckliche zu erzählen.
Ist der "Tag des Opritschniks" eine satirische Anti-Utopie?
Ich habe nichts dagegen, wenn mein Roman als eine schöngeistige Satire bezeichnet wird. Ich habe mich zum ersten Mal in diesem uralten Genre versucht und die stürmischen Reaktionen auf mein Buch in Russland und in Deutschland zeigen, dass der Leser verstanden hat, worum es mir geht. Es freut mich sehr, dass der Roman die Menschen so tief berührt hat.
Greifen Sie mit Ihrem Roman in den ewigen Streit zwischen Slawophilen und Westlern ein?
Das weiß ich nicht. Als Autor wollte ich einfach ein literarisches Experiment durchführen: Was würde passieren, wenn sich Russland mit einer "Großen Russischen Mauer" vom Westen isoliert? Mich hat überrascht, dass sich einige unserer harten Patrioten sehr positiv über mein Buch geäußert haben: Genauso müsste sich Russland entwickeln! Das Schrecklichste ist, dass viele Menschen so leben wollen - sich vom Westen mit einer Mauer isolieren, den Eisernen Vorhang wieder errichten. Unentwegt hört man von ihnen, all unser Unheil komme aus dem Westen, während wir selber sauber, gutherzig und gottesfürchtig seien. Ich möchte diese Menschen daran erinnern, was Russland in den 1930er-Jahren und auch im 16. Jahrhundert erleben musste.
Sie werden kritisiert, weil Sie in Ihren Büchern auf "Russkij mat" nicht verzichten, das heißt auf unflätiges Fluchen.
Seit Jahrhunderten gehört das Fluchen untrennbar zum russischen Leben dazu. "Russkij mat" ist eine einzigartige Sprache, die Menschen dabei hilft, in unserem nicht einfachen Land zu überleben. Ich vergleiche die russischen Flüche mit der Rolle des Wodkas in unserer Gesellschaft. Beide helfen den Menschen in zerstörerischen, aussichtslosen Situationen. Das ist eine Art Sozialtherapie. Wenn ein Schriftsteller pharisäerisch die Ohren schließt, stimmt etwas nicht. Dann ist es gelogen.
Im Unterschied zu Ihren früheren Büchern haben Sie diesen Roman in einer weicheren Sprache erzählt.
Stimmt. Aber ich schreibe so, wie es kommt. Die Texte kommen von selbst. Ich habe hier keine Wahl, ob ich härter oder softer erzähle. In jeder Geschichte ist die Wortmelodie wichtig. Hätte Nabokov den Roman "Lolita" in einer anderen Sprache geschrieben, wäre ein Softporno dabei herausgekommen. Nabokov verfasste sein Buch aber in einer einzigartigen Sprache. Dadurch wurde aus einer banalen Verführungsgeschichte ein Meisterwerk der Weltliteratur.
Tatsächlich wurde Ihnen Pornografie vorgeworfen als die kremltreue Jugendorganisation 2002 Ihre Bücher in Moskau öffentlich vernichtete. Passte den Regierenden Ihre Kritik an den sozialen Verhältnissen nicht?
So ist es. Hätten sie Pornografie bekämpfen wollen, hätten sie zuerst ein Gesetz dagegen verabschiedet. Stattdessen wurde mein Buch "Der himmelblaue Speck" vernichtet. Gleichzeitig konnte man in jedem Kiosk ohne Probleme Pornofilme kaufen.
Wusste Putin über diese Büchervernichtung Bescheid?
Natürlich. Wie könnte es anders sein? Die Aktion wurde von der Miliz beschützt.
Der Kulturausschuss der Staatsduma hat 2005 versucht, die Oper "Die Kinder Rosenthals" zu verbieten. Sie haben das Libretto geschrieben. Ist das nicht zu viel "Ehre" für einen Schriftsteller?
Auch wenn eine Wespe einen großen Menschen sticht, ist es unangenehm. Ich habe mein ganzes Leben Prosa geschrieben, die immer das Zentrum des Nervensystems unserer kranken Gesellschaft getroffen hat. Dieser Schmerz bewirkte die bedingungslos wütenden Reaktionen der Macht.
Warum schlossen Sie sich zu Sowjetzeiten dem Underground der Künstler und Literaten an?
Seit den 1970er-Jahren habe ich die Sowjetmacht gehasst. Ich war schon damals ein normaler Anti-Sowjetmensch: Ich liebte die Freiheit und die Rockmusik. Später, nachdem ich Solschenicyns "Archipel GULAG" und andere Bücher gelesen hatte, definierte ich das System als eine Art Moral-Pest.
Hat Russland eine Alternative zu dem Gesellschaftsmodell, das Sie im "Tag des Opritschniks" entwerfen?
Von 1991 bis 1994 habe ich mich nicht geschämt, in Russland zu leben. Danach begann der Tschetschenien-Krieg. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass Boris Jelzin, bei all seiner Wildheit und seinem Starrsinn, viele richtige demokratische Prinzipien in unserer Gesellschaft verankert hat.
Hat das Volk an der Demokratisierung nicht mitgewirkt?
Nein. In Russland wird alles oben entschieden. Es ist sehr wichtig, wer im Kreml sitzt. Leider ist das Volk bei uns noch nicht so weit und hat sich demokratisches Selbstbewusstsein angeeignet. Wann hätte es auch Gelegenheit dazu gehabt? Jelzin führte eine unabhängige Presse und die Marktwirtschaft ein - diese beiden mächtigen Säulen der Demokratie. Er wollte keine Rückkehr zur Sowjetunion. Dazu gehörte auch, dass er mit der Nationalhymne ein neues Staatssymbol verankerte. Putin machte diesen Schritt rückgängig und setzte die Sowjethymne wieder ein. Außerdem bezeichnete er den Zerfall der UdSSR als geopolitische Katastrophe. Jelzin dagegen war stolz darauf, die Sowjetunion zerstört zu haben.
In Moskau kritisierten Sie das Putin-System als Bürokraten-System. Russland sei zum Feudalismus zurückgekehrt...
Ich habe meine Meinung als Staatsbürger geäußert. In Russland ist alles zentralisiert, die Gouverneure werden ernannt, die Gerichte werden vom Kreml kontrolliert. Jeder kann von einem Augenblick auf den anderen zum Leibeigenen werden, der Einzelne ist der Macht also ungeschützt ausgeliefert. Die Menschen haben Angst vor dieser Macht. Die Gesellschaft ist geteilt in "Opritschniki", die Auserwählten, und alle anderen. Das ist Feudalismus.
Gehen Sie wählen?
Ja. Ich schäme mich nicht, meine Meinung offen zu sagen. Ich bin in keiner Partei, aber mir ist zuwider, was derzeit in Russland passiert. Ich mache mir Sorgen darüber, wie meine Kinder und Enkel leben werden. Ich will nicht, dass sie mir eines Tages sagen: "Vater, Du hast geschwiegen, und andere Schriftsteller haben geschwiegen, und ihr habt so lange geschwiegen, dass wir jetzt hinter einer ,Großen Russischen Mauer' leben".
Der Grundstein für die "Große Russische Mauer" wird aber erst im Jahre 2012 gelegt...
In der wirklichen Welt kann das auch in zwei Jahren passieren.
Glauben Sie, dass Präsident Medwedew die Mauer bauen wird?
Der Kreml ist ein Ort, der die Menschen, die dort einziehen, verändert, ja mutieren lässt. Und sie mutieren nicht zum Besseren. Es ist heute absolut nicht wichtig, dass Medwedew ein Demokrat ist oder dass er Rockmusik liebt. Es spielt überhaupt keine Rolle. Wichtig ist, wer er in zwei Jahren sein wird. Er könnte ein vollkommen anderer Mensch sein.
Woran liegt das?
Das ist die Mystik der russischen Staatsgewalt, der Macht - "Vlast". In Russland gab es jahrhundertelang einen zentralistischen Staat mit dem Kreml als Zentrum, dem Nukleus, wo die ganze Spannung entsteht. Dabei ist die "Vlast" so lasterhaft, zynisch und unmoralisch, dass sich an diesem Ort ein Mensch mit ethischen Vorstellungen nicht lange halten kann. Wenn er die Spielregeln der "Vlast" nicht akzeptiert, wird er dort nicht gebraucht. Er wird einfach weggespült.
Kann er die Regeln nicht ändern?
Boris Jelzin hat die Spielregeln geändert, aber so etwas geschieht sehr selten. Wir wissen nicht, wer der nächste Inhaber der Macht sein wird, der das tut. Hätten Sie 1984 geglaubt, dass nur ein Jahr später, also 1985, die Perestrojka beginnen und die Sowjetmacht wie eine Sandburg zusammenstürzen würde? Der Anstoß dazu kam aus dem Kreml.
Viele Ihrer Bücher sind auf Deutsch erschienen. Worin unterscheiden sich die deutschen von Ihren russischen Lesern?
Zweifellos versteht mich mein russischer Leser besser. Aber bei den Deutschen gibt es eine wichtige Eigenschaft, die ich sehr schätze - sie lieben es, den Dingen auf den Grund zu gehen. Sie haben eine ernsthafte Einstellung zur Literatur, die sie zur Metaphysik führt. Ich bin gerne in Deutschland, weil ich hier viele Leser habe. Hier habe ich auch viel geschrieben.
Fällt es Ihnen leicht, fern von Russland zu schreiben?
Das hilft sehr. Nikolaj Gogol hat die "Toten Seelen" in Italien geschrieben. Das hat dem Buch nicht geschadet. Wie durch ein umgedrehtes Fernglas schaute er aus der Distanz auf das, was in Russland vor sich ging. Aus nächsten Nahe wäre ihm das sehr viel schwerer gefallen. Für mich selbst unerwartet habe ich in Berlin-Dahlem angefangen, den Roman der "Himmelblaue Speck" zu schreiben. In Hannover schrieb ich den zweiten Teil von "Ljöd. Das Eis".
Fürchten Sie um Ihr Leben?
Betrachtet man das traditionelle Schicksal der russischen Schriftsteller, gibt es eine Konstante: fast alle wurden verbannt. Bis jetzt kann ich mich also nicht beklagen.
Das Gespräch führte Aschot Manutscharjan
Vladimir Sorokin:
Der Tag des Opritschniks. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008; 221 S., 18,90 ¤