Ausgezeichnet
Der Niederländer Geert Mak erhält den Buchpreis zur Europäischen Verständigung - für seine »Brücke von Istanbul«
Der niederländische Publizist Geert Mak wird auf der Leipziger Buchmesse für seinen Beitrag zur europäischen Verständigung geehrt - eine Entscheidung, die sein neues Buch "Die Brücke von Istanbul" beredt unterstreicht.
Die Brücke bietet alles, "was der Mensch so braucht": Kämme, Gesundheitssandalen, Zigaretten, tanzende Mädchenpuppen, Gucci-Tassen und Rolex-Uhren zum Spottpreis, Marken-Handys von fragwürdiger Herkunft, Regenschirme, mit üppigen Blumenwiesen bedruckt, Rasierpinsel, Kondome und eine Menge Menschen. Ein Brü-ckengedränge auf mehreren Spuren. Die Straßenbahn für die Mittelklasse, die Autotraße für die Reichen und die Gehwege für die Verlierer, Abweichler, Touristen. Das ist die Soziologie der Brücke, eine Art ökonomische Segregation.
Der niederländische Publizist Geert Mak modelliert sie in seinem neuen Buch so minutiös, dass man meinen mag, mit ihm gemeinsam in der Teestube des Galata Cafés zu sitzen, sich umzuschauen und zuzuhören. Hier, auf einer Betonkonstruktion, die gut einen halben Kilometer lang, zwei Gehwege, vier Fahrstreifen und eine zweigleisige Straßenbahn breit ist, mit einem Hubteil in der Mitte und Unterführungen sowie Ladenpassagen neben und unter den Rampen. Wo Verkäufer von Batterien und Einlegesohlen, Taschenspieler und Taschendiebe, Klebstoffschnüffler, Kellner und Parfümverkäufer ihrem Leben nachgehen. Sie wirken alle seltsam fassbar: Sie sind konkret. Ihre Krisen, die Zweifel und Abstürze bleiben uns nicht verborgen, ihre Hoffnungen, ihre Freuden, ihre "Kultur". Die Brücke ist ihr Schicksal, ein Schmelztiegel aus kleinen Gelegenheiten und großen Sehsüchten. Die Brücke fasst 482 Meter. Das ist knapp bemessen für ein Sinnbild, für die Grenze zwischen westlicher und östlich-orientalischer Welt.
Geert Mak, Jahrgang 1946, Journalist und Schriftsteller, der die eigene Familiengeschichte zur Folie nahm, um das niederländische 20. Jahrhundert unvergleichlich zu betrachten, der seinem Wohnort Amsterdam die "Biographie einer Stadt" widmete und "In Europa" vorgelegt hat, eine ambitionierte, ehrgeizige, tausendseitige Reisechronik, vielleicht die hellsichtigste des Kontinents überhaupt. Dieser Pastorensohn, der ein europäischer Bestsellerautor ist und einer der am lautesten vernehmbaren Stimmen Europas, erzählt uns die Geschichte der Galata-Brücke als einen west-östlichen Entwicklungsroman. Er setzt ihn aus vielen einzelnen, persönlichen Geschichten ebenso zusammen wie aus jener einzigen, umfassenden Historie, die (auch) diejenige der Stadt und des Landes berührt, in dem sie steht. Die Brücke überspannt ein "versunkenes Flusstal", eine "lang gestreckte Meeresbucht", die wiederum die beiden ältesten Stadtviertel trennt und damit zugleich die beiden Mentalitäten der Stadt und auch des Landes: "Die Südseite ist konservativ und dem Osten zugewandt, der nördliche Teil, mit seinen jahrhundertealten Botschaftsgebäuden und Kaufmannspalästen, ist geprägt von der Denkweise des Westens und der Leichtigkeit des modernen Lebens."
Mak folgert, dass ohne die Brücke die Stadt nichts wäre, weil die Differenz, die sie verkörpert, ohne sie nicht zum Ausdruck kommt. Er gibt dabei jedoch zu bedenken, dass die Brücke selbst zwar eine Stadt, nicht aber die Stadt sei, die wiederum nicht mit dem Land gleichgesetzt werden könne. Nichtsdestotrotz bewertet Mak Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Türkei und von Istanbul, der "vielleicht im höchsten Grade multikulturellen Stadt aller Zeiten", dieser "bizarren Mischung aus Europa und Asien, Okzident und Orient". Auf der Brücke findet diese Mischung zusammen, man kann durchaus sagen auf einzigartige Art und Weise.
Mak hat sie von Herbst 2005 bis Sommer 2006 immer wieder intensiv besucht, erlebt und erfahren. Er hat sich umgesehen und recherchiert, kam morgens um acht, manchmal auch um halb neun an, traf seinen Dolmetscher, las Zeitungen und sprach mit den Leuten. Mit sozial Deklassierten und Depravierten; keinen sparte er aus. Er hatte, wie es sich für einen guten Reporter gehört, für jeden ein offenes Ohr. Am Ende stellte er fest, dass die Menschen auf der Brücke gewissermaßen in einem Dorf leben, in einer Gemeinschaft aus eisernem Zusammenhalt, deren Kern die Familie bildet, in einem System, das ihr Überleben sichert, Unterstützung bei Krankheit oder anderen Katastrophen bietet. Und das heißt auch: Gewissheit in turbulenten Zeiten, Hilfe im Alter, "Schutz vor einer bösen Welt".
Er konnte schließlich resümieren, dass "Tradition" und "Ehre" die Fäden heißen, mit denen ein ganzes Paket von Vorstellungen, Gefühlen und Werten verschnürt ist. Dass im "Code der Brücke" das Kopftuch für vieles stehen kann: für Religiosität wie für den Wunsch, nicht belästigt zu werden, für Keuschheit und für Sensibilität.
Edmondo de Amicis, den Mak wie viele andere Dichter zitiert und der bereits 1878 einen Blick auf "Constantinopoli" warf, behauptete, hunderttausende Menschen würden täglich die Bucht am Goldenen Horn überschreiten, aber nur "ein Gedanke nur alle zehn Jahre". Für seine Idee der Brücke, "seinen" Gedanken erhält Mak nun in Leipzig den Buchpreis zur Europäischen Verständigung, was keine Überraschung ist. Doch auch wenn die Entscheidung zu erwarten war, muss man sie als richtige Geste verstehen, da sie einen beinah beispiellosen Autor ehrt und seine Ambition an herausragender Stelle unterstreicht. Selten war die Verquickung zeitgeschichtlicher Fakten und literarischer Erinnerungen mit Gesprächen lebendiger Zeitzeugen derart beredt. Geert Mak verfügt über den glücklichen Hang für das Anschaulich-Unterhaltsame.
Maks Buch ist mit seinem Gemenge aus reportagenhaften, biographischen, historisierenden, anekdotenhaften, zitierenden Elementen in der Gesamtheit ein eindringlicher Versuch über die Herausforderungen an ein vielschichtiges Europa und eine Chiffre hierfür zur selben Zeit. Es ist brillant geschrieben, in leichthändiger Tonlage verfasst; es verzichtet auf die Schwere des gemeinen Sachbuchs, ohne an Tiefe zu verlieren; es bietet die flirrende Farbigkeit der Reiseerzählung, die plastische Anschauung des Reiseberichts, ohne die intellektuelle Schärfe des Essays aufzugeben. Es ist fast das "Berlin Alexanderplatz" des frühen 21. Jahrhunderts, womöglich dessen "Flucht ohne Ende", kurz: ein Beispiel für die Wiederentdeckung der Realität.
Die Brücke von Instanbul. Eine Reise zwischen Orient und Okzident.
Pantheon Verlag, München 2007; 128 S., 9,95 ¤