Reichstagsbrand
Aufgeklärt ist der historische Kriminalfall bis heute nicht. 75 Jahre danach rollt Sven Felix Kellerhoff den Fall noch einmal auf, prüft Fakten und Indizien. Und erzählt die Geschichte eines »bizarren Streits«
War er es oder war er es nicht? Hat der niederländische Anarchokommunist Marinus van der Lubbe am Abend des 27. Februar 1933 das Reichstagsgebäude angezündet oder waren es doch die Nationalsozialisten? Diese Frage beschäftigt nicht nur die historische Zunft schon seit Jahrzehnten. Hundertprozentig konnte sie bislang niemand beantworten. Renommierte Historiker wie Hans-Ulrich Wehler oder Hitler-Biograf Ian Kershaw halten die vom ebenso anerkannten Zeithistoriker Hans Mommsen bereits 1964 gründlich geprüfte Alleintäter-These nach wie vor für die einleuchtendste. Ebenso Sven Felix Kellerhof, seines Zeichens leitender Geschichtsredakteur der "Welt", der auf Anregung des Bochumer Emeritus Tathergang und Tatmotive ebenso kenntnisreich rekapituliert wie die fragwürdigen Ermittlungen und den "keineswegs rechtsstaatlichen" Prozess vor dem Leipziger Reichsgericht.
Doch auch diese faktengesättigte Darstellung kann die letzten Ungereimtheiten und Bedenken der Kritiker nicht vollständig beseitigen. Wohl aber liefert sie plausible Gründe, warum es der am Tatort gefasste und am 10. Januar 1934 guillotinierte van der Lubbe gewesen sein muss. Bevor er sie jedoch gegen die Anhänger der Nazi-These ins Feld führt, lässt der Journalist die gesicherten Fakten sprechen. Und schildert anhand von Aussagen der Einsatzkräfte und zeitgenössischer Zeitungsartikeln die Ereignisse.
Im Minutentakt lässt er zunächst die Bilder vom Ausbruch des Feuers um kurz vor Neun, die Festnahme van der Lubbes eine halbe Stunde später und die verzweifelten Löscharbeiten sowie das baldige Eintreffen der Nazi-Größen Revue passieren. Hitlers und Görings blitzartigen Verdacht, die Brandstiftung sei "der Beginn des kommunistischen Aufstandes" deutet Kellerhof klugerweise weder im Sinne der Alleintäter- noch im Sinne der Nazi-These. Er dokumentiert vielmehr äußerst bündig die hinreichend bekannten Folgen dieses Verdikts. Und sieht bereits bei der Formulierung der Reichstagsbrandverordnung und der dadurch scheinlegitimierten Jagd auf die Linksparteien eher das Chaos als langfristige Planung am Werk. Und dies spricht eindeutig gegen einen komplett durchorganisierten Coup der Nazis, an dessen Ende die gnadenlose Verfolgung wie Vernichtung des politischen Gegners und die absolute Mehrheit nach den letzten halbwegs freien Reichstagswahlen am 5. März 1933 stehen sollte. Diese Rechnung ging erst mit den Ende März erlassenen "Ermächtigungsgesetz" auf.
Kellerhoff betrachtet die Ereignisse nicht durch eine ideologisch gefärbte Brille, sondern schöpft aus den glaubwürdigsten und hinlänglich geprüften Quellen. So deutet schon deshalb vieles auf van der Lubbe hin, weil er seine Alleinschuld in Dutzenden von Verhören immer wieder beteuerte und bei der Tatortbegehung fast jeden der gelegten Brandherde lokalisieren konnte.
Ob sein Geständnis von der Polizei oder den Nazis manipuliert worden ist, bleibt nach wie vor unklar, aber äußerst unwahrscheinlich. Überdies lässt sein eher krudes und planloses Vorgehen nicht auf verborgene Drahtzieher aus dem braunen oder roten Milieu schließen.
Am Neuköllner Wohlfahrtsamt, am Roten Rathaus und dem Berliner Schloss hatte van der Lubbe in den Nächten zuvor erfolglos gezündelt, bevor sein viertes Ziel, der Reichstag, in Flammen aufging. Dass den "verheerenden Brand" allerdings ein Einzelner entfacht haben soll, gab damals und gibt bis heute Rätsel auf. Auch wenn der Autor in seiner Bilanz mutmaßt, dass angesichts der staubtrockenen Luft im Plenarsaal und des chemisch gereinigten Mobiliars ein kleiner Brandherd ausreichte, um eine Rauchgasexplosion auszulösen, ist das nach 75 Jahren kriminaltechnisch kaum mehr nachweisbar. Auch er muss sich damit abfinden, dass es den letzten Beweis für die Tat eines Einzelnen kaum mehr geben wird.
Im Grunde zielt Kellerhoff aber weniger darauf, Marinus van der Lubbe endgültig und eindeutig als alleinigen Brandstifter zu überführen. Ihm geht es vielmehr darum, die Nazi-These wissenschaftlich zu entkräften und ihre Anhänger unlauterer Methoden zu überführen. Dass er sich dabei jener "negativen Beweisführung" bedient, die er der anderen Seite vorwirft, bleibt freilich ein rhetorisches Dilemma. Dennoch führt er den negativen Gegenbeweis wesentlich überzeugender und präziser als seine "Gegner". Nach seiner konzisen Kritik kann es kaum noch Zweifel geben, dass die von den Anhängern der Nazi-These bis heute ins Feld geführten Dokumente entweder gefälscht oder Indizien sofort als Beweise präsentiert worden sind.
Dass die publizistisch wie juristisch geführte "Schlacht" über die "korrekte" Deutung des Reichstagsbrandes weniger sachlich als vielmehr geschichtspolitisch motiviert war, kehrt er immer wieder hervor. Ohne aber die ideologischen Motive dieser fundamentalen Debatte gründlicher und systematischer zu hinterfragen und auszuleuchten. Das wäre wissenschaftlich mitunter ergiebiger und für die Bewertung ähnlich gelagerter Diskussion in der Gegenwart sicher hilfreicher gewesen, als das Für und Wider ein weiteres und bestimmt nicht das letzte Mal gegeneinander abzuwägen. Schließlich räumt er selbst ein, dass dieser "bizarre Streit" nichts zur Sache beigetragen hat. Ehrlich gesagt, kann auch sein ebenso lobens- wie lesenwertes Buch nichts Neues zur Sache beitragen, es kann sie lediglich fundiert dokumentieren.
Die Frage nach dem wahren Brandstifter hat mittlerweile auch für die Wissenschaft an Bedeutung verloren. Aus ihrer klaren Beantwortung würde die historische Forschung keine fundamental neuen Schlüsse über den Charakter und die Methoden der Nazi-Herrschaft ziehen. Der langjährige Mitarbeiter des Münchener Instituts für Zeitgeschichte, Hermann Graml, hat mit Recht darauf hingewiesen, dass es in der Logik der nationalsozialistischen Machteroberung lag, dass so "etwas wie die Reichstagsbrandverordnung und so etwas wie ein umfassender Schlag gegen die Kader der Linksparteien mit irgendeiner Begründung ohnehin inszeniert worden wäre". Es scheint also nicht mehr sonderlich relevant, den oder die Täter quellenkritisch dingfest zu machen, um damit die planvolle Brutalität des NS-Regimes respektive ihren antiparlamentarischen Charakter noch weiter zu unterstreichen. Insofern kann Kellerhoffs Buch lediglich eine Bilanz sein. Eine Bilanz, die sich nicht nur um Sachlichkeit, sondern auch um die endgültige Fundamentierung der Alleintäter-These bemüht hat. Doch nach dem 75 Jahre währenden Streit steht am Ende keineswegs eine einfache Wahrheit, wie er schlussendlich behauptet. Am Ende stehen abermals Indizien. Wenn auch die überzeugendsten, die derzeit greifbar sind.
Der Reichstagsbrand. Die Karriere eines Kriminalfalls.
Bebra Verlag, Berlin 2008; 160 S., 14,90 ¤