Ukraine
Das dramatische Schlingern eines Staates zwischen Chaos und Selbstbestimmung
Dieses Buch erzählt einen Geschichtskrimi, wie ihn nur extreme gesellschaftliche Umbrüche hervorbringen. Als Europa im Winter 2004 mit der ukrainischen Revolution in Orange mitfieberte, war wohl den wenigsten das ganze Ausmaß der Spannungen bewusst. Wolfgang Templin, früherer DDR-Bürgerrechtler und profunder Kenner Osteuropas, beobachtete als Insider die jüngste ukrainische Entwicklung mehrfach vor Ort und sprach mit Politikern und Politologen, mit Bürgerrechtlern, Journalisten und Künstlern.
In einem historischen Abriss beleuchtet der Berliner Publizist zunächst, was Sowjetherrschaft für die im Westen polnisch, im Osten russisch-byzantinisch beeinflusste Ukraine bedeutete. Es war Stalin, der mit dem politisch gewollten Hungerwinter 1932/33 an jener Nation, die zusammen mit Russen und Weißrussen das Herzstück der ostslawischen Ethnie bilden, einen der größten Genozid-Versuche des 20. Jahrhunderts unternahm.
Nach ihrem nationalistischen Partisanenkrieg gegen die Sowjets im Zweiten Weltkrieg antwortete der Kreml mit radikaler Sowjetisierung, mit GULAG und Mord gegen jede oppositionelle Regung.
Im Jahr 1990 gab eine Menschenkette von Lwow (Lemberg) bis Kiew dem ukrainischen Freiheitswillen eindrucksvollen Ausdruck. Doch de facto blieb die 1991 erlangte Unabhängigkeit eine Scheinsouveränität. Knebelverträge mit der russischen Zentralmacht, mangelnder Reformwille der Altkommunisten in den regionalen Verwaltungen, massive Korruption, ungesteuerte Raubprivatisierung durch neue Oligarchen brachten das Land unter Leonid Krawtschuk an den Rand des Zusammenbruchs.
Nach reformversprechenden Ansätzen unter dem zweiten Präsidenten Leonid Kutschma, führten Seilschaften zwischen Politikern, Kapital, Mafia und Geheimdienst mit allgegenwärtiger Bestechung und politischen Morden die Ukraine vollends auf den Weg zum Erpresserstaat. Parallelen zur späten Jelzin-Ära sind unverkennbar.
Immer wieder verblüffen Templins "Farbenspiele" durch ein Feuerwerk an Fakten über die Demokratiebewegung und Beharrungskräfte, immer auch mit Seitenblick auf die Entwicklung in Russland. Der Autor dokumentiert Zerreißproben zwischen der Ost- und Westukraine, geschürt durch die russische Staatsmacht und ihre Parteigänger, oft in Interessenallianz mit Donezer Wirtschaftsmagnaten. Templin geht parlamentarischen Machtkämpfen und Intrigen nach zwischen prorussischer Restauration und europäisch orientierten Erneuerungskräften. Und er vermittelt eine Ahnung von der dritten Macht, der Wirtschaftsoligarchie. Man liest, 300 der 452 Parlamentarier seien Millionäre.
In den Band eingeflochten sind Biografien und exemplarische Lebenswege bedeutender ukrainischer wie russischer Akteure. Templin beleuchtet die Hintergründe der fast tödlichen Dioxinvergiftung Viktor Juschtschenkos im September 2004 auf der Datscha des stellvertretenden Sicherheitschefs ebenso wie die steile Karriere Julia Tymoschenkos. Als Geschäftsfrau bereits in den 1990er-Jahren zu den reichsten Familien im Land zählend, später als Führerin der außerparlamentarischen Opposition im Gefängnis, wurde sie zur Symbolgestalt der Revolution in Orange schlechthin.
Von Staatspräsident Juschtschenko zur Ministerpräsidentin ernannt, führte Tymoschenkos radikal eingeleitete Geheimdienst- und Verwaltungsreform im September 2005 zu einer Regierungskrise und zu zeitweilig unüberbrückbaren Spannungen mit dem auf Ausgleich bedachten Juschtschenko. Putin ergriff die Gelegenheit, seine strategisch betriebene "Domestizierung" der Ukraine zu forcieren. Im Winter 2005/2006 zog er die Register des Gaspreiskrieges, zugleich stärkten mediale Stimmungsmacher seinen Kandidaten, den bei den ersten freien Wahlen wegen massiven Wahlbetrugs gescheiterten Viktor Janukowytsch. Allerdings bewirkte der russische Meister der "Gelenkten Demokratie" zugleich einen unerwarteten Schulterschluss der Reformkräfte. Juschtschenkos Sympathiewerte stiegen und dem putinnahen Ministerpräsidenten Janukowytsch blieb nur eine hauchdünne Parlamentsmehrheit.
Dem immer dreisteren Kauf von Abgeordnetenstimmen anderer Fraktionen für Janukowytschs Lager - damit der offenen Missachtung des Wählerwillens - begegnete der längst als zahnlos belächelte Staatspräsident Juschtschenko mit überraschender Auflösung und Neuwahl des Parlaments am 30. September 2007. Bis zu diesem Zeitpunkt erscheint die jüngste Geschichte der Ukraine wie ein dramatisches Schlingern zwischen Chaos, Neosowjetisierung und Demokratie.
In der soeben erschienenen, um gut 60 Seiten erweiterten Neuauflage des Buches verfolgt sein Autor die allerjüngsten politischen Entwicklungen bis zur erneuten Wahl Julia Tymoschenkos zur Ministerpräsidentin im Dezember 2007. Als Beobachter des Herbstwahlkampfes vor Ort, erlebte Templin zwar eine zunehmend mündige Ukraine. Dennoch scheint neuer Konfliktstoff bereits programmiert.
Mit seinen "Farbenspielen" bietet Wolfgang Templin einen ebenso kritischen und kompetenten wie gut lesbaren Einblick in den komplizierten und mühsamen Weg des - nach den baltischen Staaten - ersten postsowjetischen Landes hin zu seiner Unabhängigkeit.
Farbenspiele. Die Ukraine nach der Revolution in Orange.
Fibre Verlag, 2. erweit. Auflage, Osnabrück 2008; 304 S., 24 ¤