Islam und moderne
Absage an den Kampf der Kulturen
Bereits Mitte der 1970er-Jahre hatte der französische Anthroposoph und Historiker Emmanuel Todd den Zusammenbruch der Sowjetunion richtig vorhergesagt. 2002 prognostizierte er in seinem Bestseller "Weltmacht USA. Ein Nachruf" den Niedergang der amerikanischen Supermacht, und nun meldet er sich wieder zu Wort: Der Islamismus sei "ein vorübergehender Aspekt eines in Bedrängnis geratenen Glaubens" heißt es in seinem neuen Buch. Eine These, die angesichts der vielen Terrorwarnungen und düsteren Prognosen über den "Clash of Civilisations", Aufmerksamkeit verdient.
Zusammen mit Youssef Courbage, dem Direktor des Forschungsinstituts, an dem auch Todd arbeitet, setzt er sich dafür ein, sich nicht von den Behauptungen über die angebliche Unvereinbarkeit des Islams mit der Moderne beeindrucken zu lassen. Vielmehr gelte es, die "Grundzüge der Weltgeschichte" aufzuspüren.
Um dieses Anliegen umzusetzen, wird der Leser zunächst in die theoretischen Grundlagen der demografischen Forschung eingeführt. Im Groben gehen die Autoren von folgenden Prämissen aus: Sind in einer Gesellschaft mehr als 50 Prozent der jungen Männer beziehungsweise Frauen alphabetisiert, dann folgt auch zwangsweise der Rückgang der Geburten - eine Entwicklung, die die traditionellen Familienstrukturen zerstört und häufig zu krisenhaften Verwerfungen führt. Untersucht man also die demografischen und bildungspolitischen Parameter einer Gesellschaft, so sind - nach Ansicht der Autoren - Vorhersagen darüber möglich, ob der Zenit einer destabilisierenden Modernisierung bereits überwunden ist oder noch nicht.
Um es vorwegzunehmen: Wurde Todds USA-Buch von Kritikern als "fulminantes Buch" gefeiert, so wird so mancher Leser dieses Mal über die Art der Veröffentlichung enttäuscht sein. Denn nach den ersten essayistisch gehaltenen 50 Seiten folgen die umfangreichen Details demografischer Forschungsarbeit. Das oben skizzierte theoretische Gerüst wird auf die verschiedenen Regionen der islamischen Welt anwendet. Die Autoren deklinieren die einzelnen Fallbeispiele durch und arbeiten sich von Südostasien über die arabischen und nichtarabischen islamischen Kernländer bis hin zu den asiatischen und afrikanischen Staaten südlich der Sahara vor. Immer wird der Stand der Alphabetisierung des jeweiligen Landes in Bezug zu den Geburten und den überkommenen Familienstrukturen gesetzt, um vor diesem Hintergrund dann bereits vergangene oder aktuelle Krisen zu analysieren.
Wer sich die Mühe macht, den gut lesbaren Einzelfalluntersuchungen zu folgen, erfährt viel Wissenswertes und erhält eine Fülle von Denkanstößen, die wiederum neue Fragen aufwerfen. Erhellend sind etwa vergleichende Zeitangaben über erfolgte Alphabetisierungen und Geburtenentwicklungen in Europa und anderen Erdregionen. Modernisierungsschübe, die in Europa im Laufe von ein bis zwei Jahrhunderten erfolgten, vollziehen sich in den islamischen Ländern nun binnen weniger Jahre. Es handelt sich, aus Sicht der Autoren, um nachholende Entwicklungen, die aber in geradezu atemberaubender Geschwindigkeit vonstatten gehen - was wiederum eine Verschärfung der gesellschaftlichen Desorientierung nahelegt.
Extrem Diskussionswürdig ist dagegen die These, dass einem Geburtenrückgang "(...) sehr oft (wahrscheinlich sogar immer) eine religiöse Krise vorausgeht". Schließlich ist die oft auch als "Reislamisierung" bezeichnete Entwicklung in der islamischen Welt erst einmal kein Indiz für einen "Rückgang der praktizierten Religion". So interpretiert das Autoren-Duo den islamistischen Terror in Algerien Anfang der 1990er-Jahre als Folge des Zusammenbruchs und der Neuausrichtung traditioneller Familienstrukturen. Und an anderer Stelle wird Iran vor dem Hintergrund seiner demografischen und bildungspolitischen Indizes eine fortgeschrittenere Modernisierung und größere Stabilität bescheinigt als der säkular ausgerichteten Türkei.
Das Denkmodell einer krisenhaften Modernisierung und die angeführten Daten und Argumentationen erscheinen zumindest weitgehend plausibel. Der Ansatz erlaubt es, die täglichen Medienmeldungen von einer historischen Warte aus zu betrachten. Der Schrecken von Kriegen sollte dadurch nicht gemindert werden, aber Stimmen, die im Islam oder in der spezifischen Kultur krisengeschüttelter Regionen die deterministische Ursache von Gewalt ausmachen wollen, wird eine klare Absage erteilt. Trotz der Brutalität der Selbstmordattentäter heißt es in dem Buch pointiert: "Allerdings erinnert uns der Einmarsch der Amerikaner in den Irak daran, dass die westliche Welt nach wie vor den Titel des Weltmeisters in der Massenvernichtung verteidigen will, den sie im Zweiten Weltkrieg - unter anderem mit dem Holocaust und mit Hiroshima - errungen hatte."
Doch nicht alles erscheint zu Ende gedacht. So wollen die Autoren in Pakistan eine besonders schützende Wirkung der vorherrschenden Familienstrukturen für die Frauen ausmachen, wobei gerade neuere Studien zu entgegengesetzten Ergebnissen kommen. Auch wird im Falle der Türkei der Genozid an den Armeniern erst gar nicht in die Analyse einbezogen. Es sind solche Beispiele, die den Verdacht nahelegen, dass Realitäten gelegentlich der Theorie entsprechend zurechtgebürstet oder gleich außen vor gelassen werden. Ein Manko, an dem theoretisch geleitete empirische Studien häufiger kranken. Ihre Aussagekraft sollte deswegen aber nicht prinzipiell in Frage gestellt werden.
Die unaufhaltsame Revolution. Wie die Werte der Moderne die islamische Welt verändern.
Piper Verlag München 2008; 218 S., 16,90 ¤