Ukraine
Das Verhältnis zu Russland ist latent angespannt. Das Land an Dnjepr und Don ist dabei gespalten
Sewastopol feierte Mitte Juni seinen 225. Geburtstag. Anlass für russische und ukrainische Spitzenpolitiker, lautstark über die Besitzrechte an der Schwarzmeerstadt zu zanken. Der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko schickte ein Glückwunschtelegramm, indem er Sewastopol als "unseren heiligen Ort" feierte. Premierministerin Julia Timoschenko rief dazu auf, "stolz zu sein auf die Stadt ewigen Meeresruhmes, die Staat ukrainischer Seeleute". Reichlich schräger Pathos: Die Hafenstadt auf der Halbinsel Krim, 1789 gegründet, gehörte wie die übrige Krim bis 1954 zu Russland, seine knapp 400.000 Einwohner sprechen Russisch als Muttersprache. Und bis heute liegt hier die russische Schwarzmeerflotte vor Anker. "Das ist unsere Stadt", verkündete der russische Vizepremier Sergej Iwanow, der eigens zum Jubiläum angereist war, nicht weniger pathetisch und ohne Rücksicht auf die Souveränität ukrainischen Bodens. "Weil hier die Flotte liegt, die immer unsere Südgrenzen verteidigt hat."
Hinter dieser Geschichts-trächtigkeit stecken viele aktuelle Emotionen. Seit Jahren streiten Kiew und Moskau, ob die Basis Sewastopol der russischen Schwarzmeerflotte auch nach dem 2017 auslaufenden Pachtvertrag erhalten bleibt. Und ob die ehemalige Ukrainische Sowjetrepublik wirklich der Nato beitreten wird. In Sewastopol kündigte Iwanow unangenehme Folgen an: "Ich bin fast sicher, dass wenn die Ukraine sich der Nato anschließt, eine Visapflicht eingeführt wird, die Dutzende von Millionen in beiden Ländern betreffen wird."
Den meisten Russen gilt die Ukraine noch immer als kleine Schwester. Aber nicht nur deshalb wäre für Moskau die Ukraine in der Nato ein Alptraum. Gleichzeitig drängt auch die Kaukasusrepublik Georgien Richtung Nordatlantikpakt, ein anderer alter Bestandteil des russischen Imperiums. Wenn beide Exprovinzen überlaufen, würde der einstige Erzfeind einen Großteil der Schwarzmeerküste kontrollieren, jenes Meeres, das zu Zeiten des Warschauer Paktes als "mare nostre" der Sowjetflotte galt. Und auf den Landkarten der Moskauer Strategen geriete Westrussland zwischen zwei Zangenarme: Russland verlöre nach dem Baltikum im Nordwesten auch sein Vorfeld im Südwesten und Süden. Die Nato würde sich bis auf 350 Kilometer an die russische Hauptstadt heranschieben. Was mangels Konfliktstoff Russland nicht unmittelbar bedroht. Und selbst im Spannungsfall würde dieses Vorrücken angesichts der modernen Spielregeln des elektronischen Luft-Luft-Boden-Kriegs nur einen unwesentlichen Vorteil für die Nato darstellen. Psychologisch aber wirkt es doch als Aggressivität.
Schon seit Jahren beobachtet Russland mit Argwohn die eifrige Kooperation der Nato-Beitrittskandidaten in Kiew und Tiflis. Beide schmiedeten Bündnisse, die sich gegen Russland richten, allerdings über Papierpakte nicht hinauskommen. Etwa "GUAM", dem auch Aserbaidschan und Moldawien angehören, oder "ODI" ("Gemeinschaft Gewählter Demokratie"). Handfester sind die gegenseitigen Zollerleichterungen wie auch die Kampfhubschrauber und Schnellboote, die die Ukraine an Georgien liefert. Und beide Regierungen stimmen ihre Bemühungen als Beitrittskandidaten gegenüber Nato und EU ab.
Trotzdem unterscheiden die zwei Länder gerade ihre Erwartungen an einen Nato-Beitritt: 72,5 Prozent der Georgier stimmten bei einem Referendum vergangenes Jahr für diesen Schritt. Sie betrachten den russischen Nachbarn als Feind Nummer eins: Russland unterstützt die abtrünnigen georgischen Provinzen Südossetien und Abchasien wirtschaftlich und propagandistisch, versteckt auch militärisch. Und viele Georgier hoffen, dass sie mit der Nato im Rücken endlich kriegerisch mit Abchasen und Südosseten abrechnen können.
In der Ukraine dagegen sind nach Meinungsumfragen 55 Prozent der Bevölkerung gegen eine Nato-Mitgliedschaft. Für über 40 Prozent der Ukrainer ist Russisch Muttersprache, wirklich bedroht fühlt sich hier kaum jemand von Russland. Und an Krieg denkt keiner. Juschtschenko und Timoschenko beharren auf dem Nato-Beitritt, tun sich dabei aber beide schwer, Argumente dafür zu finden, was ihr Land wirklich von Nato der haben soll. Es ist gut möglich, dass die politische Elite Volkes Meinung bald Rechnung tragen wird. Angesichts der nächstes Jahr anstehenden Präsidentschaftswahlen könnte die Erzpopulistin Julia Timoschenko als erste die Parole ausgeben: "EU ja, Nato nein!" Zumal führende europäische Bündnisstaaten wie Deutschland oder Frankreich schon jetzt Front gegen die Südostexpansion der Nato machen.
Einstweilen aber bekriegen sich Ukrainer und Russen weiter. Auf ihre Art. Zur 225-Jahr-Feier enthüllten prorussische Organisationen in Sewestopol gegen den Widerstand der ukrainischen Stadtverwaltung ein Denkmal für die russische Zarin Katharina. Die Stadtverwaltung ihrerseits ließ zum Geburtstag der Heldenstadt ein Denkmal des ukrainischen Kosakenhetmans Sagajdatschnij aufstellen. Der hatte sich nicht nur mit den Türken herumgeschlagen, sondern gemeinsam mit den Polen auch den Russen schwer zugesetzt. Um prorussische Protestler auszutricksen, wurde der Hetman feierlich, aber unter Ausschluss der Öffentlichkeit eingeweiht - um acht Uhr morgens. Wenn Ukrainer und Russen streiten, wird es oft pathetisch. Aber rechte Todfeindschaft will nicht aufkommen.