EU-REFERENDUM
Europäischer Rat will die Ratifizierung weiterführen - ein Zeitplan ist noch offen
Ein geplatztes EU-Referendum wie das irische vor einer Woche lässt viel Spielraum für Spekulationen. Wollen die Iren nun mehr Europa, weniger davon oder vielleicht ein ganz anderes? Der irische Premier Brian Cowen weiß das auch nicht. Er erklärte bei einer Stippvisite bei Kommissionspräsident José Manuel Barroso, man müsse sich nun Zeit nehmen, um das Ergebnis zu analysieren und zu erforschen. Cowen war in Eile, wollte er sich doch mit Parlamentspräsident Pöttering, Ratspräsident Janez Janša und Bundeskanzlerin Angela Merkel besprechen, bevor das eigentliche Gipfeltreffen der 27 Staats- und Regierungschefs am 19. Juni begann. Zuvor hatte sich schon das EU-Parlament ausführlich mit dem leidigen Thema befasst.
Wie bereits vor drei Jahren nach dem geplatzten französischen Referendum zog in der Plenumsdebatte jeder Redner je nach Parteizugehörigkeit und Präferenz seine eigenen Schlüsse aus dem irischen Nein. Die flegelhaften Hinterbänkler der britischen Unabhängigkeitspartei, die keine Gelegenheit auslassen, um den Parlamentsbetrieb zu stören, hatten sich in grüne T-Shirts gezwängt und hielten Plakate hoch, auf denen sie sich bei den irischen Wählern bedankten. Der irische Abgeordnete Brian Crowley, dessen Partei Fianna Fail für mehr Unabhängigkeit der Nationalstaaten gegenüber Brüssel eintritt, wirkte ratlos. Fianna Fail hatte den Lissabon-Vertrag unterstützt. "Das Nein ist diffus und schwer zu analysieren. Viele behaupten, es sei gar kein Nein zur EU oder der Wunsch nach weniger EU. Vielleicht könnten die Wähler auf der Nein-Seite mal sagen, welches Europa sie sich eigentlich wünschen?" Für genau diese Wähler spricht die parteilose irische Abgeordnete Kathy Sinnott, die wie Crowley für den Wahlbezirk Südirland im Europaparlament sitzt. Sie glaubt, dass die Iren gegen den Wertewandel und gegen eine zunehmende Entfremdung von den Entscheidungsprozessen der Bürokratie protestiert haben. "Irland war stolz darauf, eine christliche Nation zu sein und wird mehr und mehr eine materialistische Nation", klagte Sinnott. "Irland ist proeuropäisch. Im Gegensatz zu den meisten von Ihnen glauben wir, dass Europa vom Weg abgekommen ist. Es hat die Demokratie aus den Augen verloren und die Menschen vergessen."
Man werde das irische Votum respektieren, betonten sowohl die Parteienvertreter im Europaparlament als auch die Staats- und Regierungschefs beim Gipfeltreffen in Brüssel. "Wir werden den Willen der Iren achten, aber den Ratifizierungsprozess dennoch fortsetzen", kündigte ein Vertreter des slowenischen Ratspräsidenten im Europaparlament an.
Diese Botschaft scheint zumindest in Großbritannien gehört worden zu sein. Am 18. Juni stimmte das britische Oberhaus dem Lissabon-Vertrag zu. Damit haben nun 19 Staaten den Text akzeptiert, sieben Abstimmungen stehen noch aus. Probleme werden vor allem in Tschechien erwartet, das im April die Abstimmung verschoben hatte. Die tschechische Regierung gilt als äußerst euroskeptisch.
"Stünde die Ratifizierung jetzt an, würde ich nicht einmal 100 Kronen darauf setzen, dass es ein Ja gibt", sagte Tschechiens Ministerpräsident Mirek Topolanek nach dem Abendessen der Gipfelteilnehmer. Er befürchte, dass das gescheiterte irische Referendum die EU-kritischen Stimmen im tschechischen Parlament stärke. Nach einem Frühstück unter dem dämpfenden Einfluss von Angela Merkel nahm er diese Aussage aber teilweise zurück.
Auch Kommissionspräsident Barroso sprach sich dafür aus, mit der Ratifizierung fortzufahren. "Wir haben unendlich viel Energie in diese Reform gesteckt. Wir können es uns nicht leisten, diese Energie zu vergeuden. Jahrelang hat man die europäischen Institutionen als Sündenbock benutzt, daraus ist die Grundlage für die Nein-Kampagne entstanden. Man kann nicht von Montag bis Freitag auf Brüssel schimpfen und dann erwarten, das die Bürger am Sonntag für Europa stimmen."
Der sozialistische Fraktionschef Martin Schulz konterte: "Wer macht denn die Institutionen zum Sündenbock? In den Hauptstädten Europas gibt es jede Menge Leute, die hier in Brüssel im Rat mitbeschließen. Und wenn sie dann nach Hause kommen, sagen sie im Erfolgsfall: Das waren wir, die Staatschefs! Im Fall es Misserfolgs sagen sie: Das waren die in Brüssel!" Heftige Kritik übte Schulz am irischen Binnenmarkt-Kommissar Charlie McCreevy, der zuhause eingeräumt hatte, den Lissabon-Vertrag nicht gelesen zu haben. "Das ist der Mann der für den europäischen Binnenmarkt zuständig ist, der wegen seiner sozialen Unausgewogenheit von immer mehr Bürgerinnen und Bürgern als Bedrohung begriffen wird." An Barrosos Adresse gerichtet sagte Schulz: "Die beste sozialpolitische Maßnahme, die Sie für Europa vorschlagen können, ist, dass Sie Herrn McCreevy das Dossier entziehen!
Doch dazu wird es ganz sicher nicht kommen. Die irischen Regierungsvertreter wurden beim Gipfeltreffen von ihren Kollegen mit Samthandschuhen angefasst.
Premier Brian Cowen habe beim Abendessen "langatmig" über Gründe für das irische Nein referiert, berichtete ein Teilnehmer. Einig waren sich die Ratsmitglieder, dass der Ratifizierungsprozeß weitergehen soll. Tschechien machte dies in eine Fußnote vom Urteil seines Verfassungsgerichts abhängig.
Ratspräsident Janša deutete aber an, von den Iren werde nicht wie ursprünglich gefordert bis zum Oktobergipfel eine zündende Idee erwartet, wie die Krise gelöst werden kann. "Der Oktobergipfel wird die Gelegenheit für einen Fortschrittsbericht geben", erklärte Irlands Außenminister Michael Martin. "Aber Lösungen dürfen wir bis dahin nicht erwarten."