AuslÄnder in Deutschland
Integration an der Basis. Türkische Unternehmer berichten über das Geheimnis ihres Erfolgs
Aise Özdemir möchte nicht still sitzen. Die 35-jährige Frau aus Dortmund hat einen 12-Stunden-Tag voller Bewegung: In ihrer Praxis für Physiotherapie behandelt sie Patienten mit Rückenbeschwerden, Übergewicht oder nach Knieoperationen. Sie erstellt Fitnesspläne und macht mit ihnen Übungen an den Geräten. Erst vor drei Jahren hat Özdemir sich selbständig gemacht - heute hat sie zwei Vollzeitbeschäftigte und jeden Tag eine volle Praxis. "Ich habe für mein kleines Unternehmen gekämpft", sagt die braunhaarige Geschäftsfrau mit den funkelnden Augen.
Aise Özdemir ist eine von vielen tausend türkischen Unternehmern und Unternehmerinnen in Deutschland. In der öffentlichen Wahrnehmung sind sie meist unsichtbar. Zu drängend und skandalträchtig sind die Probleme der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland.
Der "siebte Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland", der am 19. Juni im Bundestag debattiert wurde, thematisierte eher die ungelösten Probleme einer Zuwanderungsgesellschaft: Die geringeren Bildungsabschlüsse der Migranten, ihre höhere Arbeitslosigkeit und ihr größeres Risiko, zu verarmen. Selbständige wie Özdemir waren allerdings schon im Bericht 2007 ein verstecktes Highlight: In der Bundesrepublik gebe es 582.000 Unternehmer ausländischer Herkunft, die zwei Millionen Arbeitsplätze geschaffen hätten, hob die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU) damals hervor.
"Türkischstämmige Menschen sind längst unverzichtbar für die deutsche Wirtschaft", sagt auch Yunus Ulusoy, Forscher am Essener Zentrum für Türkeistudien (ZfT). Seit der ersten Einwanderergeneration, die in den 1960er-Jahren kam, besetzen die Türken längst mehr als die Dönerbuden und Trinkhallen, die sie vor Jahrzehnten betrieben haben. Der durchschnittliche türkische Selbständige ist hier geboren und 37 Jahre alt. In der Sprache der Soziologen heißen sie "inländische Wirtschaftssubjekte". Die Umfragen des ZfT zeigen: Mehr und mehr Handwerker finden sich unter den Türkischstämmigen, sie betreiben Transportunternehmen oder Friseurgeschäfte. Relativ selten sind auch Freiberufler, die als Steuerberater, Handelsagenten oder PR-Experten tätig sind. "Es gibt eine stetige Aufwärtskurve", sagt Ulusoy.
Für den Wissenschaftler hat dies vor allem einen Grund: Die zweite Einwanderergeneration wurde in Deutschland ausgebildet und konnte zum ersten Mal unerlässliche Hürden wie den Meisterbrief überwinden. Auch wenn sie noch immer wesentlich niedrigere Bildungsabschlüsse machen als deutsche Jahrgänge - und als ihre Verwandten in der Türkei. Den Wandel in der Bildungslandschaft hat Ulusoy selbst erfahren. "Als ich 1984 in Herne Abitur gemacht habe, war ich stadtweit der einzige Türke auf dem Gymnasium." Es gab kaum türkische Geschäfte, in den kleinen Stadtteilzentren lebten noch die kleinen Tante-Emma-Läden. "Damals gab es nur in den Hinterhöfen kleine Dönerbuden, die nie deutsche Kunden empfingen." Heute profitieren die türkischen Händler davon, dass die Supermärkte die deutschen Läden ruiniert haben. Ihre Obst- und Gemüseläden florieren - mit mehrheitlich deutscher Kundschaft.
Nach Erhebungen des Essener ZfT hat sich die Zahl der türkischen Selbständigen von 1996 bis 2006 auf rund 68.000 verdreifacht. Sie sind vor den Italienern und Griechen die größte Gruppe ausländischer Kaufleute. Auch international sind deutsch-türksiche Geschäfte zunehmend wichtig: Deutschland ist für die Türkei der wichtigste Handelspartner. Das Volumen des Warenaustauschs zwischen beiden Ländern stieg in den vergangenen Jahren kontinuierlich. 2005 wurden für 8,3 Milliarden Euro türkische Waren in Deutschland abgesetzt. Der Wert der deutschen Exporte in die Türkei betrug 12,8 Milliarden Euro. Rund 2.000 deutsche Unternehmen engagieren sich in der Türkei - Tendenz steigend.
Auch Aise Özdemir empfängt deutsche und türkische Patienten. Die Dortmunder Therapeutin arbeitet längst wie eine Integrationsbeauftragte der Stadt: Sie hat eine arabisch und eine bosnisch sprechende Frau eingestellt und kooperiert mit einer deutschen Praxis, um die Frauen untereinander bekannt zu machen. Sie hat sich extra in der Dortmunder Nordstadt niedergelassen. In diesem Viertel im östlichen Ruhrgebiet reihen sich türkische Händler, Teestuben und Ärzte aneinander. "Ich wusste: Hier werde ich gebraucht", sagt sie.
Özdemir trainiert in ihrer Freizeit eine deutsch-türkische Fußballmannschaft für Mädchen und veranstaltet Laufkurse. "Ich fühle mich verantwortlich für sie", sagt sie lebhaft. Türkische Frauen lebten oft zurückgezogen. Sie selbst wollte "so früh wie möglich selbständig werden". In ihrer Familie erfuhr dieser Plan wenig Unterstützung: Während das Studium ihrer fünf Brüder von den Eltern finanziert wurde, hat sie sich ihre teure Ausbildung zur Physiotherapeutin selbst verdient. Sie arbeitete als Bürokauffrau und machte in Abendkursen das Abitur nach. "Es war unglaublich anstrengend", erinnert sie sich. Als die Praxis, in der sie angestellt war, plötzlich geschlossen wurde, griff sie zu und eröffnete ihre eigene. Von Anfang an setzte sie auf ihre Internationalität: "Ich bin in Krankenhäuser und zu Ärzten gegangen und habe gesagt: Schickt mir Eure türkischen Patienten, ich spreche ihre Sprache", erzählt sie. Viele reagierten begeistert, schon im ersten Monat machte Özdemir 4.000 Euro Umsatz.
Politische Unterstützung hingegen hätten die türkischen Unternehmer bisher kaum erfahren, sagt Ulusoy. "Wie viele türkische Berater gibt es denn in den Handelskammern, wie viele in den Parlamenten?", fragt er. Weil sich Deutschland lange Zeit geweigert habe, die Zuwanderung zu akzeptieren, sei auch die Unterstützung von türkischen Unternehmern kein Ziel gewesen. Erst jetzt würde langsam das Potenzial erkannt. Dennoch, so Ulusoy, hätten es türkische Bewerber wesentlich schwerer als die "Biodeutschen", wie er die seit Generationen in Deutschland beheimateten nennt. "Da kann schon ein unaussprechlicher Name ein unüberwindliches Hindernis sein."
Genau diese ärgerlichen Hemmnisse will die deutsch-türkische Industrie- und Handelskammer (DTIHK) mit Sitz in Köln abbauen. Die Organisation wurde erst 2003 gegründet und vertritt 400 Mitglieder - von kleinen und mittelständischen türkischen Unternehmen bis hin zu Ford und Siemens. "Wir wollen die Beziehungen zwischen beiden Ländern fördern", sagt Nalan Öztürk von der DTIHK. In den vergangenen Jahren sei die Türkei als Tigerstaat mit niedrigen Löhnen für die deutsche Wirtschaft immer interessanter geworden. Oftmals kann die Kammer, die noch in diesem Jahr eine Dependance in Berlin aufbauen will, über einfache kulturelle Unterschiede aufklären. "Wer mit einem Türken verhandelt, der braucht viel Zeit. Da wird erst mal ein Tee getrunken und gesprochen und wieder Tee getrunken", sagt Öztürk. Die Deutschen hingegen würden "sofort zur Sache kommen und den Vertrag auf den Tisch legen."
Insgesamt scheinen Türken mehr Zeit in die Arbeit zu investieren. Im Unterschied zu den Wochenarbeitszeiten deutscher Gewerbetreibender arbeiten die Selbstständige mit Migrationshintergrund zwischen drei bis sechs Stunden länger. Außerdem gibt es mit 20 Prozent noch weniger weibliche Unternehmerinnen als unter Deutschen. "Das gibt aber nicht ihren tatsächlichen Anteil an der Arbeit und dem Erfolg wieder", sagt Forscher Ulusoy. "Häufig schmeißen die Frauen den Laden."
In Erbach schmeißt Aziz Yüzer "den Laden". Er ist Chef einer industriellen Produktionsfirma mit 1.600 Mitarbeitern. Das war in seiner Jugend nicht abzusehen: Als er mit 13 Jahren aus Anatolien nach Deutschland kam, wurde er auf die Hauptschule geschickt. "Ich konnte keinen Brocken deutsch", erzählt er. Als er seinen Abschluss machte, hatte er die Sprache gerade erst erlernt - zu spät, um noch die mittlere Reife zu erlangen. Und zu spät, um sich mit einem guten Notenschnitt um eine Ausbildung zu bewerben. "So musste ich Leiharbeiter werden", sagt Yüzer. Doch schnell setzte er sich gerade mit seinen interkulturellen Fähigkeiten durch.
Als er Bremsbeläge bei der Firma Continental produzierte, wurde er mehr und mehr zum Betriebsdolmetscher. "Sie hatten so viele Einwanderer an den Maschinen stehen, die noch kein deutsch sprachen, da bin ich eingesprungen", erzählt er. Am Wochenende arbeitete er als Industriereiniger. Offenbar so gut, dass ihn sein Chef als Partner in eine neue Firma holte. "Heute profitieren wir beide - ich kümmere mich um die türkischen, er um die deutschen Kunden", sagt Yüzer. Mit großem Erfolg: Die HKL Gummi- und Metallverarbeitungsgesellschaft mbH aus dem Odenwald ist mittlerweile ein Global Player mit einer immer breiteren Produktpalette. Sie stellt unter anderem Gummiformartikel, Türdichtungen, Klarsichtverpackungen und Industriereiniger her und macht einen Umsatz von 50 Millionen Euro pro Jahr.
Für Yüzer ist das "gemischte Doppel", wie er seine binationale Firmenspitze nennt, der Schlüssel zum Erfolg. "Das baut auf beiden Seiten Vorurteile ab", sagt er. Yüzer bedauert, dass die "deutsche Ausländerpolitik Selbständigen so viele Steine in den Weg legt." Oftmals gelinge es nicht, die türkischen Vertragspartner zu einem Treffen in Deutschland einzuladen. "Sie scheitern an den aufwändigen und langwierigen Visaverfahren", erzählt er. So müssten immer die Deutschen in die Türkei reisen. "Diese Kooperationen werden vom Staat zu wenig anerkannt." Dabei sorgen die türkischen Unternehmer sehr effektiv für die Integration ihrer Landsleute. In die Praxis von Aise Özdemir kam zum Beispiel eine 38-jährige Frau mit fünf Kindern. Ihr Mann hatte sich aus dem Staub gemacht, die kranke Frau sprach kein Wort deutsch. Wenige Tage zuvor hatte sie ihre Sachen in Tüten gepackt und war umgezogen, sie hatte keine Krankenversicherung und keinen Cent Geld mehr. "Ich konnte sie nicht einmal aufs Ergometer setzen, weil sie noch nie auf einem Fahrrad saß", sagt Özdemir.
Die Physiotherapeutin hat der hilflosen Türkin zu einem Sprachkurs verholfen und ihr alle Amtsgänge erklärt. Es war offenbar ihr erster Kontakt zur deutschen Außenwelt. "Ich kann meine Augen nicht zumachen", sagt Aise Özdemir. "Ich will die Barrieren abbauen."