LISSABON-VERTRAG
Irisches Nein stellt EU vor neue Hindernisse und verzögert den Zeitplan für Reformen
Portugals Ministerpräsident José Socrates machte kein Hehl daraus: Eigentlich hätte er mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) an diesem 19. Juni lieber gemeinsam auf der Fußballtribüne gesessen als im fünften Stock des Brüsseler Ratsgebäudes. Hier ließ sich Angela Merkel per SMS über den Spielstand informieren - und konnte dort nach mehr als 90 Minuten den 3:2-Sieg der deutschen Mannschaft in Basel bejubeln.
Eine so schnelle Entscheidung war aus Brüssel nicht zu vermelden. Denn nach dem Nein der Iren am 12. Juni ist weiter ungewiss, ob die EU die geplanten Reformen bis zur Europawahl im Juni 2009 wirklich durchsetzen kann. Zwar soll es, so Bundeskanzlerin Merkel, keine neue Denkpause wie nach den negativen Referenden in Frankreich und in den Niederlanden 2005 geben. Dennoch werden sich die Staats- und Regierungschefs der 26 EU-Staaten mit Irland offenbar erst frühestens im Oktober darüber verständigen, wie es mit dem EU-Reformvertrag weitergehen soll.
Am Vormittag des 19. Juni hatte Angela Merkel im Bundestag in einer Regierungserklärung unmissverständlich deutlich gemacht, dass die europäischen Verträge nur einstimmig weiterentwickelt werden könnten: "Die Geschlossenheit Europas", sagte Merkel, "so mühsam zu erreichen sie auch immer sein mag, ist kein Selbstzweck, sondern ein hohes Gut." Diskussionen um ein Europa der zwei Geschwindigkeiten erteilte sie eine klare Absage. Sie räumte ein, dass es den Ländern überlassen sei, in einzelnen Politikbereichen mitzumachen oder nicht, bei der institutionellen Weiterentwicklung, also den Rechten des Parlaments und des Rates, müsse die EU jedoch mit einer Stimme sprechen. "Der Vertrag von Nizza reicht nicht aus", erklärte sie kategorisch. Vor dem Bundestag erinnerte sie daran, dass mit dem Lisssabon-Vertrag gerade auch die nationalen Parlamente gestärkt würden: "Sie erhalten diese Rechte, um die Tätigkeit der Union zu kontrollieren und notfalls sogar dagegen zu klagen." Gleichzeitig hob sie nochmals hervor, dass "Europa die richtige Antwort auf die Herausforderungen in einer globalen Welt ist".
Im Alltag zählen dazu auch die gestiegenen Preise für Lebensmittel, Öl und Gas. Sie waren ebenfalls Thema auf dem EU-Gipfel. In ihrer Regierungserklärung kündigte Merkel an, dass man in Europa dabei versuche " gemeinsam und abgestimmt vorzugehen", aber finanzpolitische Eingriffe vermieden werden sollten. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy hatte sich aufgrund der gestiegenen Energiepreise dafür ausgesprochen, die Mehrwertsteuer zu deckeln, was Deutschland ablehnt, da es nicht in die Märkte eingreifen möchte. Guido Westerwelle (FDP) hingegen sieht die Regierung in der Pflicht: "Die Preistreiber bei der Energie sitzen auf der Regierungsbank", sagte er und warf der Koalition vor, "sich hinter Europa zu verstecken". Europas Bürger, mahnte Westerwelle in diesem Zusammenhang, müsse der Nutzen der Europäischen Union immer wieder aufs Neue klargemacht werden.
Auch Angelica Schwall-Düren (SPD) sah in dem negativen Votum der Iren einen Beleg dafür, dass es nicht gelungen sei, die EU als eine "Möglichkeit für die soziale Gestaltung der Globalisierung deutlich zu machen". Sie plädierte ebenfalls dafür, den Ratifikationsprozess fortzusetzen. Skeptisch bewertete sie hingegen die Idee einer Neugründung. Dies würde mehr Komplexität und Intransparenz zur Folge haben.
An der Frage, ob die vielbeschworene Akzeptanz der Bürger für Europa durch das Instrument der Volksabstimmung verbessert werden kann, schieden sich in der Debatte die Geister: Gregor Gysi von der Linken erklärte, es sei falsch, "einen Weg zu gehen, bei dem Volksentscheide verhindert werden". Auch wenn vom Lissabon-Vertrag einiges übernommen werden könne, forderte er einen anderen Vertrag. "Was wir brauchen, ist ein Neuanfang und nicht Tricks, um das Alte fortzusetzen", sagte Gysi.
Für die Grünen konterte Jürgen Trittin, dass ein europaweiter Volksentscheid eben nur nach einer Vertragsänderung und der Zustimmung aller Mitgliedstaaten einschließlich der Iren möglich sei. Er machte deutlich, was ein Scheitern des Vertrages bedeuten würde: keine Einführung europäischer Bürgerinitiativen, keinen Hohen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik und keine Ausweitung der parlamentarischen und gerichtlichen Kontrolle über die polizeiliche Zusammenarbeit. "Es gibt keine Alternative zu dem Versuch, diesen Prozess, der vor acht Jahren begonnen hat, erfolgreich zu Ende zu bringen, und zwar mit den Iren", sagte der Grünen-Politiker.
Wann und ob diese Änderungen in Europa kommen werden, bleibt unklar. Momentan spielt die europäische Führungsmannschaft erst einmal auf Zeit.