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Morales spaltet das Land - Regionen für Autonomie
Bolivien befindet sich in einer paradoxen Situation. Die Regierung Morales ist mit rund 54 Prozent der Stimmen gewählt worden - gleichzeitig ist diese Regierung die wohl schwächste in der demokratischen Geschichte Boliviens. Zur Mitte der Regierungshalbzeit der MAS (Bewegung zum Sozialismus) steckt Bolivien in einem fundamentalistischen, sich zunehmend radikalisierenden politisch-strategischen Patt.
Der unter Verstoß gegen alle Verfahrensregeln und unter Ausschluss der Opposition Ende vergangenen Jahres verabschiedete Verfassungsentwurf, mit dem die MAS die "Neubegründung" des Landes und sein politisches Hegemonieprojekt in die Tat umsetzen will, stößt auf teilweise erbitterten Widerstand der Mehrzahl der neun Departements und der Oppositionsparteien. Präsident Evo Morales kann sich inzwischen nicht mehr in einigen Regionen zeigen, will er gewaltsame Zusammenstösse vermeiden. Das Land driftet auseinander. Morales ist auf dem besten Weg, ein Präsident mit immer weniger Land zu werden. Angesichts einer schwachen bis nicht existenten parteipolitischen Opposition wurde die Absicht einiger Regionen, sich über die Annahme von Autonomiestatuten erhebliche Freiräume gegenüber der Zentralregierung in La Paz zu erkämpfen, immer mehr zum Katalysator des Widerstandes gegen die Regierung Morales.
Dass auf beiden Seiten handfeste politische und wirtschaftliche Interessen im Spiel sind, ist offensichtlich. Der strategische Fehler der Regierung liegt jedoch darin, seit Beginn ihrer Amtszeit das historische Problem der Dezentralisierung des Landes und den positiven Ausgang der entsprechenden Autonomiereferenden des Jahres 2006 nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Stattdessen reduzierte sie unter dem Druck ihrer Wählerschaft die Autonomieforderungen auf das Feinbild der Oligarchie von Santa Cruz und eine ethnische Spaltung des Landes.
Die Regierung Morales wird immer mehr zum Gefangenen dieser verfehlten Strategie und gerät immer stärker unter Druck. Nachdem das bevölkerungsreiche Department Santa Cruz am 4. Mai mit rund 85 Prozent für die Annahme eines Autonomiestatuts gestimmt hatte, zogen die beiden kleineren Departments Pando und Beni der "Halbmond" genannten Gruppe von Departments mit rund 82 bzw. 80 Prozent nach. Vorläufiger Höhepunkt dieser Bewegung war die Annahme des Autonomiestatuts des Departments Tarija mit ebenfalls knapp über 80 Prozent.
Alle Schritte der Regierung, angefangen von Sach- und Geldgeschenken, einer massiven Nein-Kampagne bis hin zu Versuchen, die Bevölkerung gewaltsam an der Abstimmung zu hindern, konnten dieses klare Votum nicht ändern.
Der Autonomieprozess hat eine Eigendynamik gewonnen, die auch mit dem Hinweis auf die fehlende verfassungsrechtliche Grundlage dieser Referenden nicht mehr gestoppt werden kann. Unmittelbar nach dem Wahlgang in Tarija wurde bestätigt, dass mit Ausnahme von La Paz auch die restlichen vier Departments Oruro, Potosi, Chuquisaca und Cochabamba eigene Autonomiestatute vorlegen wollen.
Ob dies nach einer Reihe von gescheiterten Verhandlungsrunden zwischen Regierung, Regionen und Oppositionsparteien nun zur Einsicht führt, dass das Patt durch ernsthafte Verhandlungen aufgebrochen werden muss, bleibt abzuwarten. Die Regierung scheint auf das für den 10. August terminierte, ebenfalls einer verfassungsrechtlichen Grundlage entbehrende Abberufungsreferendum zu setzen, mit dem die Bevölkerung über den Amtsverbleib des Staatspräsidenten und der Präfekten entscheiden soll. Ob es zu diesem Referendum tatsächlich kommt, ist offen. Nach dem Volksentscheid in Tarija haben fünf Präfekten angekündigt, dass in ihren Regionen nicht über die Abberufung abgestimmt werde. Stattdessen forderten sie einen "Nationalen Pakt der Versöhnung" oder die Ausrufung von Neuwahlen durch Morales. Da eine Abberufung des Präsidenten eher unwahrscheinlich ist, erwartet in Bolivien trotz der denkbaren Ablösung einiger Präfekten davon niemand eine grundsätzliche Machtverschiebung oder eine unmittelbare Lösung der grundsätzlichen Probleme.
Insgesamt ist keine Entwicklung in Sicht, die eine interne Neugewichtung der Kräfte und damit belastbare Annäherungen bewirken könnte. Daher deutet vieles darauf hin, dass die Regierung Morales versuchen wird, nach dem Scheitern des Abberufungsreferendums ihren Verfassungsentwurf unverändert zur Abstimmung zu stellen. Nur eine Annahme dieser Verfassung ermöglicht Morales eine erneute Kandidatur für das Amt des Staatspräsidenten - das strategische Hauptziel der MAS. Zusammen mit den 2009 anstehenden Kommunalwahlen bedeutet dies für Bolivien ein weiteres Jahr fundamentaler Auseinandersetzungen, die zu einer Vertiefung der Spaltung des Landes beitragen werden.
Eine Vermittlungsinstanz ist nicht mehr vorhanden. Auch gibt es keine Institution mehr, die in der Lage wäre, die streitenden Seiten an einen verfassungsrechtlichen Ausgangspunkt zurückzuzwingen. Das Land zahlt einen hohen Preis dafür, dass die Regierung Morales seit ihrem Amtsantritt alles versucht hat, funktionierende Institutionen, allen voran das Verfassungsgericht, dramatisch zu schwächen. Die Hoffnung vieler, schlichtweg die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen des Jahres 2010 abzuwarten, könnte sich als gefährlicher Trugschluss erweisen.