"Es gibt Fehlentwicklungen"
Willy Wimmer, nach 33 Jahren als Bundestagsabgeordneter zum Ende der Wahlperiode ausscheidender Außen- und Sicherheitspolitiker der CDU, sieht "Fehlentwicklungen" in der parlamentarischen Arbeit. Im Interview mit der Wochenzeitung "Das Parlament" vom 13. Juli 2009 stellt Wimmer einen Qualitätsverlust in der Gesetzgebung fest. Der Abgeordnete, direkt gewählt im Wahlkreis Krefeld I - Neuss II, kritisiert, dass er wegen seiner ablehnenden Haltung gegenüber Auslandseinsätzen der Bundeswehr in der Fraktion isoliert worden sei. Er fordert eine Enquete-Kommission, die sich mit der "tatsächlichen Rolle" der Abgeordneten beschäftigt. Der ehemalige parlamentarische Staatssekretär im Verteidigungsministerium scheidet dennoch nicht enttäuscht und resigniert aus: "Ich gehe ohne Bitterkeit."
Vor 33 Jahren sind Sie in den Bundestag eingezogen. Was waren damals Ihre Beweggründe, Ihre Ziele?
Ich war seit frühester Jugend außen- und sicherheitspolitisch interessiert. Geschichte war schon in der Schule meine große Stärke. Mich hat eigentlich die Europapolitik von Konrad Adenauer in die Politik gezogen, für einen Rheinländer sicher nicht unverständlich. Ich wollte auf die Nachbarn in Europa auf eine Art zugehen, die der vorherigen Generation nicht möglich war.
Welches sind die entscheidenden Veränderungen in der
parlamentarischen Arbeit 1976 und heute?
Wir hatten, die vergangenen beiden Bundestagswahlen zusammengenommen, einen Weggang von rund 70 Prozent der Abgeordneten. Dass ist ein Aderlass, den man nicht hinnehmen kann. Ich bin für frischen Wind im Parlament, aber ich bin gegen den Abbau von tradiertem Wissen. Der alte Bundestag in Bonn legte größeren Wert auf das Wissen gestandener Parlamentarier. Wir waren auch engagierter. Das kann man schon sagen, ohne der Vergangenheit Lorbeeren umhängen zu wollen. Der alte Deutsche Bundestag in Bonn hat sich als Parlament in der Arbeit anders verstanden.
Haben die Veränderungen mit dem Umzug nach Berlin zu
tun?
Mag sein. Ich persönlich mache es aber nicht allein daran fest. In der Vergangenheit gab es beispielsweise eine solche Nachfrage auf Mitgliedschaft im Verteidigungsausschuss, dass man den dreifach hätte besetzen können. Heute ist es schwer, überhaupt jemanden in diesen Ausschuss zu bekommen. Der Auswärtige Ausschuss war immer eine Eliteeinheit. Da kam man früher nur hinein, wenn man mehr kannte als nur seinen eigenen Wahlkreis. Der Bundestag ist anders geworden. Ich beobachte, dass sich auch die Qualität der Ausschussarbeit verändert hat. Auf der Regierungsseite gibt es einen Parallelprozess. Im alten Bonn kann ich mich nicht an so schludrige Gesetzentwürfe erinnern wie hier in Berlin. Die deutsche öffentliche Verwaltung in der alten Bundesrepublik hatte Niveau. Heute müssen Anwaltsbüros beschäftigt werden, um überhaupt noch Gesetze zustande zu bringen. Das hat es nicht gegeben. Die Qualität war eine andere und aus meiner Sicht auch eine bessere. Im Zusammenhang mit der Wirtschafts- und Finanzkrise muss man sich daher ernsthaft fragen, ob die Probleme von Regierung und Parlament überhaupt noch beurteilt werden können.
Das ist aber ein sehr harsches Urteil…
Das ist ein realistisches Urteil. Ich will die Zeit im Parlament nicht missen. Aber es kommt ja darauf an, Erkenntnisse weiterzugeben und zu sagen: Achtet mal darauf. Das kann so nicht weitergehen. Vor dem Hintergrund dieser Dinge müsste eigentlich der künftige Präsident des Bundestages eine Enquete-Kommission einsetzen, um sich mit der tatsächlichen Rolle des Abgeordneten zu beschäftigen.
Haben die von Ihnen aufgezeigten negativen Entwicklungen auch etwas
mit der Großen Koalition zu tun?
Die Große Koalition hatte eine Anfangschance, die dann nicht mehr genutzt worden ist. Die Anfangschance bestand darin, aus dem Grabenkrieg der Vorgängerkoalition herauszukommen. Dadurch, dass beide großen Parteien beteiligt waren, konnte sich die Exekutive auch nicht mehr so bequem einrichten. In den ersten anderthalb Jahren wurden hervorragende Debatten geführt. Als dann aber nach etwa zwei Jahren die Unlust der Führungen in der Großen Koalition auf beiden Seiten deutlich zu erkennen war, hat sich das wie Mehltau auf die parlamentarische Arbeit gelegt. Wenn jeder sagt: Ich will mit der Großen Koalition eigentlich nichts mehr zu tun haben, obwohl ich Minister derselben bin, was wollen sie dann als Parlamentarier machen? Andererseits hätten wir ohne die Große Koalition ganz andere Probleme im Land.
Wünschen Sie sich also wieder eine Große
Koalition?
Selbstverständlich. Aber diejenigen, die eine solche Große Koalition führen, müssen anders miteinander umgehen, als es in den vergangenen drei Jahren der Fall gewesen ist. Sie haben schließlich eine Verantwortung für das Land. Wir stehen möglicherweise am Vorabend eines neuen Krieges gegen den Iran. Zumindest ist dies nicht auszuschließen. Wenn das auf uns zukommt und zudem noch Arbeitslosenzahlen von 5,5 Millionen Menschen Wirklichkeit werden und wir das mit einer kleinen Koalition in den Griff bekommen wollen, wird mir ja jetzt schon angst und bange.
Sie haben sich als Verteidigungsexperte mehrfach gegen
Auslandseinsätze der Bundeswehr ausgesprochen.
Warum?
Die Verfassung ist unsere Richtschnur, auch für Parlamentarier. Ihr tragender Aspekt ist die Achtung des Völkerrechts. Und da fragte ich mich vor dem Jugoslawien-Krieg: Wie kann ich vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte einen Krieg mitführen, bei dem die Regeln des Völkerrechts so außer Kraft gesetzt worden sind? Das waren meine Überlegungen – deshalb war ich dagegen.
Haben Sie aus demselben Grund auch das Afghanistan-Engagement
abgelehnt?
Wenn man sagt, es darf für uns aus Afghanistan keine Gefahr mehr hervorgehen, muss man mit allen Mitteln der Politik versuchen, dieses Ziel zu erreichen. Mit Luft- und Artillerieangriffen, bei denen die Zivilbevölkerung betroffen ist, wird das nicht gelingen.
Aber deutsche Truppen führen keine Angriffe.
Wir sind an diesem Krieg beteiligt. Wir können nicht sagen, die anderen führen den Krieg und wir schützen nur die rückwärtige Front. Wir sind an dem Gesamtvorgang Afghanistan beteiligt.
Wie hat Ihre Fraktion auf diese ablehnende Haltung
reagiert?
Im Grunde hätte das eine solch große Fraktion tolerieren können. Doch ich durfte nicht mehr reden, ich bekam Dienstreisen gestrichen und wurde durch die Fraktionsführung isoliert.
Also bekommen Abgeordnete bei Entscheidungen gegen die eigene
Fraktion Schwierigkeiten?
Ja. Und zwar evident und eklatant. Dabei hilft auch hier ein Blick in die Verfassung. Die Fraktionen sollten ein anderes Verständnis für diese Dinge haben. Man ist dem gemeinsamen Ganzen natürlich verpflichtet, aber in solchen Fragen darf man sich nicht drücken und in die Büsche schlagen, wenn man der Auffassung ist, es stimmt nicht. Und es stimmt ja nun hinten und vorne nicht, was das Völkerrecht betrifft. Und wenn man Nein sagt – dann muss das hingenommen und nicht mit Sanktionen belegt werden.
Auch beim Lissabon-Vertrag waren Sie der einzige CDU-Abgeordnete,
der dagegen gestimmt hat. Fühlen Sie sich durch das Urteil
bestätigt?
Ja, sicher. Aber darum geht es nicht. Wenn man Leute aus den parlamentarischen Beratungen ausschließt, indem sie vor dem Parlament nicht mehr reden dürfen und sie aus dem Ausschuss geworfen werden, wenn sie dort den Mund aufmachen, trägt das dazu bei, dass unser parlamentarisches System verkommt.
Ist Ihr Ausscheiden aus dem Parlament also auch ein
enttäuschtes Resignieren?
Nein. Überhaupt nicht. Ich habe zehn Jahre lang versucht, in den eigenen Reihen die Fahne des Völkerrechts hochzuhalten. Ich bin mit 33 gekommen und gehe mit 66. Das ist eine gute Zeitspanne. Ich gehe ohne Bitterkeit. Ich sage nur: Es gibt Fehlentwicklungen. Und als jemand, der ausscheidet, habe ich ein Interesse daran, dass es denjenigen, die nach mir kommen, anders geht. Dass man ihnen als frei gewählte Abgeordnete mit größerem Respekt begegnet. Deshalb spreche ich das auch so deutlich an.