Verfassungsgericht sieht Rechte des Bundestages verletzt
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat vier Abgeordneten und der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen bestätigt, dass die Bundesregierung ihre grundgesetzlichen Rechte sowie die des Deutschen Bundestages verletzt hat, indem sie Auskünfte mit "verfassungsrechtlich nicht tragfähigen Begründungen" verweigerte. In dem am 30. Juli 2009 veröffentlichten Beschluss heißt es, insbesondere der Verweis auf eine Berichterstattung gegenüber anderen parlamentarischen Kontrollgremien entbinde die Bundesregierung nicht von ihrer Berichtspflicht gegenüber dem Bundestag.
Die Fraktion hatte 2006 in zwei Kleinen
Anfragen Auskunft von der Regierung darüber verlangt, ob und
gegebenenfalls welche Informationen der Bundesnachrichtendienst und
die Nachrichtendienste der Länder über die
Bundestagsabgeordneten sammeln.
Anlass für die Anfragen (
16/1808,
16/2342) war eine Entscheidung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 6. Juni
2006, die sich unter anderem mit der Klage von Abgeordneten des
schwedischen Parlaments beschäftigte, die durch den
schwedischen Geheimdienst bespitzelt worden waren. Am 13. Juni und
am 1. August 2006 richteten Bündnis 90/Die Grünen ihre
Kleinen Anfragen an die Bundesregierung, die am 30. Juni (
16/2098) und am 16. August 2006 (
16/2412) von der Regierung beantwortet
wurden.
"Äußerungen nur in besonderen Gremien"
Die Regierung lehnte darin Antworten auf die Fragen teilweise mit dem Hinweis darauf ab, dass sie sich zu der Arbeitsweise, der Strategie und dem Erkenntnisstand der Nachrichtendienste des Bundes, die geheimhaltungsbedürftig seien, grundsätzlich nur in den dafür vorgesehenen besonderen Gremien des Deutschen Bundestages äußere.
Weiterhin verwies sie darauf, dass sie dem Parlamentarischen
Kontrollgremium am 5. April 2006 darüber berichtet habe und
dass sie zu den rechtlichen Voraussetzungen und Grenzen der
nachrichtendienstlichen Beobachtung von Abgeordneten auch
gegenüber dem Ältestenrat des Deutschen Bundestages
Stellung genommen habe oder sich dazu nur in den dafür
vorgesehenen besonderen Gremien des Bundestages äußern
werde.
"Tätigkeit der Nachrichtendienste gefährdet"
Auf einzelne Fragen gab die Bundesregierung keine Auskunft mit der Begründung, dass die Tätigkeit der Nachrichtendienste gefährdet würde. Zu Fragen, die sich auf die Zeit vor der Bundestagswahl 1980 bezogen, wies die Regierung auf die gesetzlichen Löschungspflichten hin, aufgrund derer die entsprechenden Datensätze nicht mehr vorliegen. Gegebenenfalls vorhandene Informationen zu den betreffenden "Altakten" könnten nicht wie verlangt innerhalb von 14 Tagen erschlossen werden.
Im Organstreitverfahren hatten die Abgeordneten und die Fraktion
die Feststellung beantragt, dass die Bundesregierung mit ihren
Antworten auf diese Kleinen Anfragen ihre und die Rechte des
Deutschen Bundestages verletzt habe. Ferner forderten sie, dass die
Bundesregierung verpflichtet wird, die erbetenen Auskünfte zu
erteilen oder sie wenigstens so weit und in einer Form zu erteilen,
die den "objektiven Geheimhaltungsinteressen der Bundesrepublik
Deutschland Rechnung tragen".
"Begründung entspricht nicht verfassungsgemäßen
Anforderungen"
Aus Sicht der Verfassungsrichter entspricht die pauschale Begründung der Ablehnung mit der Geheimhaltungsbedürftigkeit der verlangten Informationen "nicht den verfassungsgemäßen Anforderungen". Teilweise seien die Anträge der Fraktion unzulässig, soweit sie eine Verpflichtung der Bundesregierung auf Auskunftserteilung betreffen, aber auch, weil sich die Antragsbegründung nicht mit den Antworten auf die genannten Fragen auseinandersetzt.
Unter anderem heißt es in dem bereits am 1. Juli 2009
gefassten Beschluss, das Parlamentarische Kontrollgremium sei ein
zusätzliches Instrument parlamentarischer Kontrolle der
Regierung, das parlamentarische Informationsrechte nicht
verdränge. Denn sonst hätte sich der Deutsche Bundestag
mit der Einrichtung des Kontrollgremiums "wesentlicher
Informationsmöglichkeiten begeben" und die Kontrolle der
Regierung im Hinblick auf die nachrichtendienstliche Tätigkeit
des Bundes nicht etwa verbessert, sondern verschlechtert.
"Bundestag muss Regierungskontrolle effektiv wahrnehmen"
Die Bundesregierung müsse den Bundestag in die Lage versetzen, seine parlamentarische Kontrolle des Regierungshandelns effektiv wahrzunehmen. Abgesehen von Fällen offenkundiger Geheimhaltungsbedürftigkeit könne das Parlament nur anhand einer "der jeweiligen Problemlage angemessenen ausführlichen Begründung" beurteilen und entscheiden, ob es die Verweigerung der Antwort akzeptiert oder welche weiteren Schritte es unternimmt, sein Auskunftsverlangen ganz oder zumindest teilweise durchzusetzen.
Zugleich schreibt das Gericht, die nachrichtendienstliche
Beobachtung von Abgeordneten berge erhebliche Gefahren im Hinblick
auf ihre Unabhängigkeit und auf die Mitwirkung der betroffenen
Parteien bei der politischen Willensbildung und damit für den
Prozess demokratischer Willensbildung insgesamt. "Das
diesbezügliche Informationsbedürfnis des Parlaments hat
hohes Gewicht. Soll sich demgegenüber der Geheimnisschutz als
gegenläufiger Belang durchsetzen, bedarf es einer besonderen
Begründung."
Weitere Informationen
Bundestagsdrucksachen zum Thema
-
16/1808 - Kleine Anfrage BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN: Sammlung, Speicherung und Weitergabe von Informationen
über Bundestagsabgeordnete durch Geheimdienste
-
16/2098 - Antwort der Bundesregierung auf 16/1808
-
16/2342 - Kleine Anfrage BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN: Erhebung, Speicherung und Weitergabe von Informationen
über Bundestagsabgeordnete durch Geheimdienste in den
Wahlperioden 1 bis 16
-
16/2412 - Antwort der Bundesregierung auf 16/2342