Seit dem 1. Januar hat Angela Merkel neben ihrem Parteivorsitz und der Kanzlerschaft noch zwei weitere „Hüte auf“: Sie ist für sechs Monate EU-Ratspräsidentin, also Chefin der Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat der Europäischen Union. Außerdem übernimmt sie 2007 den Vorsitz der G-8, dem Klub der acht größten Industrieländer der Welt.
Viel internationale Verantwortung für Deutschland also — und alles ein reines Regierungsgeschäft? Weit gefehlt. Seit Monaten sind Gremien und Abgeordnete des Bundestages an den Vorbereitungen beteiligt, begleiten das Vorankommen bei vielen verschiedenen Themen. Wenn die Welt erwartungsvoll auf Deutschland schaut, hängt ein Erfolg nicht zuletzt von der Arbeit und den Impulsen aus dem parlamentarischen Raum ab. Zu Beginn des Europajahres mit EU-Ratspräsidentschaft und 50. Jahrestag der Römischen Verträge hat BLICKPUNKT BUNDESTAG ins Parlament hineingehorcht: Was sind die Themen, was die Erwartungen, und wie greifen die Abgeordneten und Fraktionen ins europäische Geschehen ein?
Zeitlich war es Zufall, inhaltlich nicht:
Rechtzeitig vor Beginn der EU-Ratspräsidentschaft schlossen
Bundestag und Bundesregierung eine Vereinbarung über eine noch
intensivere Zusammenarbeit und Mitwirkung des Bundestages in
EU-Angelegenheiten ab. Und pünktlich zum Start der
Präsidentschaft nahm ein Verbindungsbüro des Bundestages
in Brüssel seine Arbeit auf. Als „zwingend“
bezeichnet Bundestagspräsident Norbert Lammert im
Gespräch mit BLICKPUNKT BUNDESTAG die Beteiligung der
Parlamente an der europäischen Politik.
Aus der Sicht von Regierungen störten die Parlamentarier
gelegentlich. Jedoch: „Manchmal muss man zu der Einsicht
verhelfen, dass sie in bestimmten Situationen auch für
Regierungen sehr hilfreich sein können“, betont Lammert
nachdrücklich. Vor allem in den internationalen Beziehungen
könnten Abgeordnete auf viele Beispiele verweisen, in denen
die offizielle Diplomatie sich festgefahren hat und die
Abgeordneten und ihre in vielen Begegnungen gewachsenen
vertrauensvollen Kontakte zu wichtigen Sondierungen und neuen
Bewegungen genutzt werden können.
Parlament als Gastgeber
Hinzu kommen die gewandelten
Rahmenbedingungen. Lammert: „Glücklicherweise haben wir
inzwischen einen Zustand der Europäischen Union, in der deren
eigene Meinungsbildung und Rechtssetzung nicht allein durch
Vereinbarungen zwischen Regierungen zustande kommt, sondern durch
eine formalisierte Mitwirkung des Europäischen Parlaments. Und
umgekehrt bedarf jede auf europäischer Ebene zustande
gekommene Vereinbarung in ihrer nationalen Umsetzung der Mitwirkung
der jeweiligen Parlamente.“ Sprich: Die Regierung macht?s
— aber nur mit dem Parlament schafft sie es auch.
So wie die Regierung während der Ratspräsidentschaft eine
Fülle von Fachministerkonferenzen organisiert, laufen auch auf
parlamentarischer Seite eine Serie von Aktivitäten. In
Brüssel gibt es zwei große Parlamentarierkonferenzen, zu
denen die Präsidenten von Europäischem Parlament und
Bundestag einladen, und auch die thematischen Details der
Ratspräsidentschaft werden parallel von fachlich versierten
Abgeordneten bei Treffen in Deutschland behandelt. Von besonderer
Bedeutung ist dabei die COSAC („Conférence des Organes
Spécialisés dans les Affaires Communautaires“),
eine regelmäßige Beratung europapolitischer Themen durch
die jeweiligen Fachausschüsse der nationalen Parlamente, die
sich mit Europafragen befassen. Natürlich haben dabei der
Bundestag und sein Europaausschuss während der deutschen
Ratspräsidentschaft die Aufgabe des Gastgebers, von dem auch
koordinierte parlamentarische Impulse erwartet werden — eine
große organisatorische und politische Herausforderung.
Worauf richten die fünf Fraktionen ihr besonderes Augenmerk?
Übereinstimmend sehen die fünf Obleute des
Europaausschusses spürbare Fortschritte beim
EU-Verfassungsvertrag ganz weit oben auf der Agenda. Die FDP
erwartet etwa, dass die Bundesregierung „mehr Ehrgeiz
zeigt“. Ihr Obmann Markus Löning hat das Gefühl, es
gebe ein Erwartungsmanagement nach dem Motto „Erwartungen
runterschrauben, dann ist schon das kleinste Ergebnis ein
großer Erfolg“. Dabei habe Deutschland doch immer eine
ausgleichende Rolle gespielt, sei stets Mittler zwischen Ost, West,
Nord, Süd, Großen und Kleinen gewesen.
Deshalb reiche es beim Verfassungsprozess nicht aus zu sagen: Wir
stellen mal einen neuen Zeitplan auf. Löning:
„Nötig ist vielmehr ein Mandat für eine neue
Regierungskonferenz mit inhaltlichen Eckdaten über die
Verhandlungen.“ Das müsse straff organisiert und vor den
Europawahlen 2009 erledigt sein. Löning, zugleich
Vizepräsident der Europäischen Liberalen, hat im Vorfeld
aus vielen Ländern die klare Botschaft gehört: „Ihr
Deutschen habt das nötige politische Gewicht, ihr müsst
den Knoten jetzt durchschlagen.“ Aber auch von
außerhalb Europas, etwa aus Kanada, komme die dringende
Empfehlung: „Macht mal euren Verfassungskram fertig und
werdet wieder richtig handlungsfähig, wir haben wichtige
Handelsthemen und Sicherheitsfragen mit euch zu besprechen, und ihr
seid mit eurer inneren Organisation beschäftigt.“
Für die Fraktion Die Linke. ist ebenfalls klar, dass
Deutschland die EU-Verfassung „wieder aufs Gleis bringen
muss“, wie Obmann Alexander Ulrich betont. Franzosen und
Niederländern könne derselbe Text nicht ein zweites Mal
zur Abstimmung vorgelegt werden, es müsse einen Neuanfang
geben. Ulrichs Vorschlag: Auch außerparlamentarische
Bewegungen, Verbände und Gewerkschaften mit einladen, die
positiven Bestandteile des jetzigen Entwurfs retten, die soziale
Frage klarer darstellen und dann einen alternativen
Verfassungsvertrag mit den Europawahlen 2009 in allen Ländern
zur Abstimmung stellen. Insofern sei die Krise, in der die EU
stecke, eine Chance, die EU „demokratischer, friedlicher,
sozialer zu gestalten“.
Mehr Einfluss in Brüssel
Auch die SPD erwartet von der deutschen
EU-Ratspräsidentschaft, dass „die Dimension der
europäischen Sozialpolitik“ herausgestellt wird,
daseuropäische Sozialmodell müsse in Abgrenzung zur
amerikanischen Praxis und zum asiatischen Verständnis
weiterentwickelt werden. SPD-Obmann Axel Schäfer listet auf:
„Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf gleicher Augenhöhe,
funktionsfähige Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände,
Kompromiss als klassisches Instrument von Interessenausgleich,
solidarische Finanzierung, staatliche Mitverantwortung ...“
— auf vielen Feldern gebe es Handlungsbedarf auf EU-Ebene.
„Die Leute erwarten mehr Sozialgemeinschaft und glauben, dass
Europa hier noch viel nachzuholen hat“, erläutert
Schäfer. Dabei war die Frage der Beschäftigung in den 50
Jahren seit den Römischen Verträgen stets zentral.
Höchste Zeit also aus Sicht der SPD, dass
EU-Gesetzentwürfe künftig nicht nur auf ihre
Binnenmarkttauglichkeit, sondern auch auf ihre sozialen
Auswirkungen hin überprüft werden.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist wichtig,
dass der Kern der künftigen Verfassung klar auf den Tisch
kommt, dass statt Regierungsgeheimdiplomatie die Menschen in die
Debatte einbezogen werden. Das andere wichtige Thema für
Obmann Rainder Steenblock ist der europäische Energiemarkt. Da
gibt es zum einen die Verknüpfung von Versorgungssicherheit
und innerer Demokratie in den Lieferländern. „Wir
dürfen die Menschenrechtsfragen nicht gegen die Energie
verkaufen.“ Daneben seien Wettbewerbsregelungen dringend
nötig. Die Monopolstrukturen müssten durchbrochen werden,
damit die Verbraucher unter den Anbietern wählen und sich
zugleich auch kleinere am Markt behaupten könnten. Steenblock:
„Dieses Energiewettbewerbsrecht auf europäischer Ebene
ist eine ganz große Herausforderung für die deutsche
Ratspräsidentschaft.“
Steenblock kann eine „gewisse Enttäuschung“ nicht
verbergen, wenn er an den ersten Praxistest des neuen
Kooperationsabkommens zwischen Bundestag und Bundesregierung denkt.
„Wir sollten viel stärker beteiligt werden — und
was erleben wir jetzt bei der Vorbereitung der Berliner
Erklärung zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge?
Da wird das Parlament völlig draußen gehalten. Wir
erfahren so gut wie nichts.“ Seine Befürchtung:
„Eine Erklärung aus viel heißer Luft.“ Wer
Europa voranbringen wolle, indem er sich auf die Regierungsebene
beschränke und nicht darauf achte, die Menschen und die
Parlamente mitzunehmen, der müsse scheitern: „Das ist
nicht der Weg, auf dem Europa erfolgreich sein kann.“
Es ist keine Überraschung, dass dies in der
Regierungskoalition anders wahrgenommen wird. „Wir sind in
informellen Runden und auch in den Ausschusssitzungen seit einem
guten halben Jahr in die Vorbereitungen eingebunden“,
berichtet der CDU/CSUObmann Michael Stübgen. Zwar lautet auch
für ihn das erste Resümee der neuen Kooperation zwischen
Parlament und Regierung in Europafragen: „Da muss noch eine
ganze Menge dazukommen.“ Doch die Bundesregierung habe ihre
Verpflichtung zur Informationsübermittlung eingehalten. Jetzt
ergebe sich ein Mengenproblem: Wie die riesige Fülle von
Informationen richtig kanalisieren? „Wir sind noch nicht so
weit, dass wir die Strukturen vollständig organisiert
haben“, sagt Stübgen für die Bundestagsseite.
„Da müssen wir noch eine ganze Menge
machen.“
An anderer Stelle sieht Stübgen aber auch bei der Regierung
noch Bedarf, sich umzustellen. Etwa was das Weitertragen von
Bundestagspositionen nach Brüssel anbelangt. Die
Bundesregierung muss sich um Einvernehmen mit dem Bundestag
bemühen und im Ministerrat einen Parlamentsvorbehalt einlegen,
wenn ein Beschluss des Bundestages in einem seiner wesentlichen
Belange dort nicht durchsetzbar ist. Nachdem der Ausschuss zum
Kommissionsprojekt einer Grundrechteagentur, die EU-Institutionen
und Mitgliedsstaaten bei Grundrechtsfragen zuarbeiten soll,
deutliche Bedenken artikuliert hatte, reagierte die Regierung
hinhaltend. Bei den konkreten Verhandlungen kamen kritische
Töne von einigen anderen Regierungen, nicht jedoch von der
deutschen. Stübgen: „Die Bundesregierung wird sich daran
gewöhnen müssen, dass wir auch Protokolle lesen.“
Deshalb ist sich der Unionspolitiker mit Blick auf fehlende
Umsetzung von Bundestagspositionen im europapolitischen
Alltagsgeschäft sicher, „dass wir das im Laufe der
nächsten Monate abstellen“. Der Ausschussvorsitzende
Matthias Wissmann (CDU/CSU) hat anlässlich der Kontroverse um
die Grundrechteagentur in einem zwischen den Fraktionen
abgestimmten Brief an die Regierung deutlich gemacht, dass das
Parlament künftig verbindliche Vorgaben in der Europapolitik
machen werde.
Kurze Drähte nach Europa
Dennoch sind die Abgeordneten nicht allein
auf die Bundesregierung angewiesen, wenn sie erfahren wollen, wie
die internationale Meinungsbildung läuft. Seit Anfang des
Jahres hat der Bundestag ein eigenes Büro in Brüssel, das
Informationen sammelt und als eine Art
„Frühwarnsystem“ Hinweise auf EU-Vorhaben geben
soll, die im Laufe der Beratungen auch für den Bundestag
wichtig werden könnten. Nicht minder wichtig sind die kurzen
Drähte, die jede Bundestagsfraktion mit ihren jeweiligen
Parteifreunden in anderen europäischen Ländern und in den
Fraktionen des Europäischen Parlaments pflegt.
Auf dieser Schiene kamen schon im Vorfeld der deutschen
Ratspräsidentschaft eine Menge Zusatzwünsche in Berlin
an. So interessant dabei jeder Anstoß war, so sehr gingen die
deutschen Gesprächspartner aus den großen Fraktionen
allmählich zu einer eher abwartenden Haltung über:
„Das eigentliche Problem ist, dass von unseren
europäischen Parteifreunden zu viel an uns herangetragen
worden ist“, schildert CDU/CSU-Obmann Stübgen. So sei
der Wunsch geäußert worden, auch die künftige
Finanzverfassung noch mit auf die Tagesordnung zu stellen.
„Da mussten wir dann beginnen, die Erwartungen
herunterzuschrauben — wir werden eben nicht alle Probleme
Europas und der Welt in einem halben Jahr lösen
können“, berichtet Stübgen. Die Europapolitiker
aller Fraktionen loben daher die Bemühungen der
Bundesregierung, eine Kooperation mit Slowenien und Portugal, die
die nächste und übernächste
EU-Ratspräsidentschaft innehaben, zu installieren. Im Dezember
hat der Rat das 18-Monats-Programm gebilligt. Damit sollen
Projekte, die jetzt begonnen werden, unter der Ägide der
folgenden Präsidentschaften fortgesetzt werden.
Nicht nur der Bundestag als Ganzes, nicht nur die Ausschüsse,
sondern auch die Fraktionen begleiten die Ratspräsidentschaft
mit eigenen Veranstaltungen. Die Fraktion Die Linke. etwa lädt
für den 9. März, also im Vorfeld der Berliner
Erklärung der Staats- und Regierungschefs am 25. des Monats,
die Parteifreunde aus anderen europäischen Ländern zu
einem Treffen ein, bei dem über ein friedlicheres,
demokratischeres, sozialeres Europa nachgedacht werden soll.
„Möglicherweise findet das seinen Abschluss in einer
linken Berliner Erklärung — sozusagen als Gegenentwurf
zu dem, was 14 Tage später passiert“, kündigt
Obmann Ulrich an.
Mit einer besonderen Symbolik leitete die SPD-Fraktion die
Ratspräsidentschaft ein: Sie versammelte sich komplett im
Europäischen Parlament in Brüssel, um ihre
Arbeitsschwerpunkte für 2007 zu besprochen.
Kommissionsmitglieder und Europaabgeordnete waren mit von der
Partie. Axel Schäfer hatte die Idee. Für ihn ist das
„ein wichtiges Signal und auch eine Selbstverpflichtung, dass
wir uns in Zukunft stärker mit der europäischen Dimension
von Politik befassen.“ Und es war auch ein Zeichen nach
innen. Die Botschaft: „Europapolitik funktioniert eigentlich
so wie die Zusammenarbeit von Bund und Ländern.“
Also eine klare Europaperspektive aus dem Bundestag für die
Präsidentschaft. Was davon Wirklichkeit wird —
spätestens die nächste deutsche
EURatspräsidentschaft wird es zeigen. 2020 stünde diese
an — es sei denn, der Verfassungsvertrag tritt wie geplant in
Kraft, wodurch die turnus mäßige Präsidentschaft
durch einen auf zweieinhalb Jahre gewählten Präsidenten
abgelöst würde.
Rätewirren in Europa: Wer macht was?
Text: Gregor Mayntz
Fotos: studio kohlmeier, Picture-Alliance/dpa
Erschienen am 31. Januar 2007
EIN TREFFEN DER GENERATIONEN — gab es im Bundestag anlässlich der deutschen EU-Ratspräsidentschaft: Bei der Veranstaltung „Europa neu sehen“ im Dezember diskutierten Schüler von fünf Berliner (Europa-) Schulen mit dem Präsidenten und den Fraktionsvorsitzenden des Europäischen Parlaments (EP). Begrüßt wurden sie von EP-Präsident Josep Borrell Fontelles (Nachfolger seit Januar: Hans-Gert Pöttering) und von Bundestagspräsident Norbert Lammert.
Broschüre „Bundestag und
Europa“
Mit Informationen über Geschichte und parlamentarische Praxis,
die Institutionen der EU und die internationalen Beziehungen des
Bundestages.
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E-Mail:
infomaterial@bundestag.de
Webseite: www.bundestag.de/interakt/infomat
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