Einleitung
Während die westliche Welt jahrzehntelang durch das Säkularisierungsparadigma geprägt war, demzufolge der Einfluss der Religionen auf die Politik im Rahmen eines welthistorischen Prozesses in zunehmenden Maße an Bedeutung verlieren würde, lässt sich in den vergangenen Jahrzehnten eine Revitalisierung von Religionen und religiösen Akteuren in vielen nationalen Arenen und auf der weltpolitischen Bühne beobachten. Diese Entwicklung ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass die erfolgten Säkularisierungsschübe in vielen Teilen der Welt ein Unbehagen an den sozialen, ökonomischen und politischen Entfremdungseffekten der Moderne und ihren säkularen Sinnsystemen ausgelöst haben, wodurch diese modernen Ordnungsvorstellungen viel von ihrer Überzeugungskraft eingebüßt haben. Der Rückgriff auf religiöse und kulturelle Traditionen und deren Neuinterpretation angesichts der erodierenden Sinn- und Identitätsangebote aus der westlichen Welt scheint in dieser Hinsicht eine verständliche Reaktion zu sein, deren Folgen sich weltweit bemerkbar machen und die religiöse Überzeugungen wieder zu bedeutenden Motiven politischen Handelns hat werden lassen.
Das Interesse an dieser Entwicklung scheint zum einen mit der Deprivatisierung der zwischenzeitlich Unsichtbaren Religionen und ihrem Wiederauftauchen als Öffentliche Religionen erwacht zu sein. Zum anderen irritiert das zunehmend gewalttätige Auftreten religiös motivierter Akteure. In der Tat wird diese Wiederkehr der Götter als Rache Gottes oder als Kampf für Gott gedeutet, insoweit mit ihr auch Terror im Namen Gottes verbunden ist, der sich aus einem Heiligen Zorn speise. Als Resultat dieser Entwicklungen sprechen die einen von religiös motivierten Kulturkonflikten, während andere die Vision eines friedlichen Zusammenlebens der Kulturen beschwören. 1
Tatsächlich wäre es falsch, angesichts des Anstiegs religiös motivierter Gewalt einseitig das Konfliktpotenzial von Religionen zu betonen und deren Friedens- und Versöhnungspotenzial zu vernachlässigen. Die Problematik religiöser Überzeugungen und ihres Einflusses auf politisches Handeln zeichnet sich vielmehr durch die Komplexität der Ambivalenz des Sakralen aus, in deren Folge sich Religionen im Spannungsfeld zwischen Toleranz und Fanatismus und zwischen Gewalt und Versöhnung bewegen. Dieser Ambivalenz können keine eindeutigen politischen Konsequenzen zugeschrieben werden. Der Rückbezug auf das Heilige kann sowohl reaktionär und konservativ als auch reformerisch oder revolutionär wirken. Es kann die Gesellschaft und ihre politische Ordnung befrieden, stabilisieren und integrieren, sie aber auch destabilisieren, desintegrieren und in einem religiös motivierten und legitimierten Blutrausch zerfallen lassen. Die Beantwortung der entscheidenden Frage, wann und wie die Ambivalenz des Sakralen in die eine oder andere Richtung umschlägt, muss sowohl die inneren Faktoren der vielfältigen Formen der Religionen und Politischen Theologien als auch die äußeren sozialen, ökonomischen und politischen Faktoren berücksichtigen.
Das Gewaltpotenzial Politischer Theologien
Ganz zweifelsohne wohnt den Religionen ein nicht zu unterschätzendes Gewaltpotenzial inne, das ganz erhebliche destruktive Kräfte freisetzen kann. Dabei scheint keine der Weltreligionen von diesem Verdacht ausgenommen werden zu können: weder das Christentum noch der Islam, aber auch nicht das Judentum und auch nicht der Hinduismus. Selbst der insbesondere durch den Dalai Lama im Ruf besonderer Friedfertigkeit stehende Buddhismus kann nicht für sich reklamieren, keine Gewalt freizusetzen.
Worauf beruht also das Gewalt- und Konfliktpotenzial dieser Religionen? Eine erste Antwort wäre in den Strukturen religiöser Erfahrungen zu suchen. Obwohl wir mit einer Vielzahl unterschiedlicher Formen religiöser Symbolsysteme konfrontiert werden, kann dennoch jenseits der damit einhergehenden Differenzen ein Gemeinsames im existenziellen Bezug auf das Heilige gefunden werden: Der Erfahrung eines mysterium tremendum et fascinans, das aufgrund seiner unkontrollierbaren Präsenz sowohl grauenerregend und furchteinflößend (tremendum) als auch überwältigend und daher achtungsgebietend und faszinierend (fascinans) ist. Mit anderen Worten, religiöse Erfahrungen des Heiligen sind außerordentlich ambivalente Begegnungen mit einer die alltägliche Vorstellungskraft überschreitenden Macht.
Diese Ambivalenz des Sakralen lässt sich deutlicher fassen, wenn wir uns den Strukturen Politischer Theologien widmen. Von der Intention her weisen die meisten Politischen Theologien eine zentrale Gemeinsamkeit auf, welche die angesprochene Ambivalenz aufzulösen scheint. Diese wurzelt in der universellen anthropologischen Konstante der menschlichen Unvollkommenheit. Denn gerade aus der Spannung der Erfahrung der Unvollkommenheit des Menschen und der Ungerechtigkeit der menschlichen Welt einerseits und der spirituell erfahrenen göttlichen oder transzendenten Vollkommenheit und Gerechtigkeit andererseits entfaltet sich die motivierende Kraft der Religionen: der Wunsch nach Überwindung der menschlichen Unvollkommenheit und der Ungerechtigkeit der Ordnung der Welt. Religiöse Symbolsysteme streben die Eindämmung von Konflikten und Gewalt durch ethische Handlungsregeln und politische Ordnungsprinzipien an, die Gerechtigkeit zwischen den Menschen stiften sollen. Sie intendieren die Überwindung von Konflikten und Gewalt in einem Jenseits oder in einem irdischen Paradies. Mit anderen Worten, gemessen an dieser Botschaft sind Religionen eigentlich friedensliebend und friedensstiftend.
Aber diese Feststellung hebt die angesprochene Ambivalenz nur scheinbar auf. Denn gerade diese Intention begründet gleichzeitig das Konflikt- und Gewaltpotenzial der Religionen, insoweit diese auf einer "göttlichen" Definitionsmacht und Definitionsleistung beruhen, die zwischen Recht und Unrecht, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit und letztendlich zwischen Gut und Böse unterscheidet. Diese Definitionen werden im Allgemeinen durch eine transzendente Sakralisierung legitimiert, die mit einer Sanktionsmacht kosmischen Ausmaßes einhergeht, welche die Möglichkeiten jeder irdischen Strafgewalt lächerlich erscheinen lässt. Die Verheißung von Frieden, Liebe, Gerechtigkeit und Erlösung wird flankiert von der Gewalt- und Strafandrohung bei Nichtbeachtung der göttlichen Gebote. Das Bild des liebenden und zornigen Gottes symbolisiert paradigmatisch die Ambivalenz des Sakralen.
So findet sich im Zentrum jeder (religiösen) Definitionsleistung immer ein binärer Dualismus, mit dem eine Komplexitätsreduktion der Wirklichkeitswahrnehmung bis hin zu einem manichäischen Weltbild einhergehen kann. Diese Gefahr wird durch Tendenzen zur Kanonisierung und Dogmatisierung verstärkt, in deren Zuge der Anspruch auf die Verkündigung der einen Wahrheit zu Selbstgewissheit und Fundamentalismus mutieren kann. So kann die der religiösen Erfahrung eigentümliche Begeisterung in blinden Fanatismus umschlagen, der das jeweils Andere der Lüge und Unwahrheit bezichtigt und seine Existenzberechtigung negiert. Diese inhärenten und potenziellen Tendenzen zu Intoleranz und Ausschluss werden insbesondere dann radikalisiert, wenn Gewalt als Mittel zur Überwindung und Vernichtung des Bösen und zur Durchsetzung der eigenen Wahrheit legitimiert wird.
Der jeweils Andere ist das notwendige und unvermeidliche Nebenprodukt einer religiösen (oder säkularen) Identitätsbildung, weil die Bestimmung der eigenen Identität immer durch eine Abgrenzung zum Nichtidentischen vorgenommen werden muss. So führen Religionen auf der einen Seite zur Konstituierung, Institutionalisierung, Integration und Stabilisierung einer "in-group" von Gläubigen, der zwangsläufig eine "out-group" von Ungläubigen gegenübersteht, von der man sich, um die Geschlossenheit der eigenen Gruppe zu bewahren, über eine Abgrenzung nach außen distanzieren muss und mit der es unter Umständen auch zum gewaltsamen Konflikt kommen kann. Aber diese Feststellungen dürfen nun nicht zu dem Fehlschluss verleiten, dass alle Religionen zwangsläufig ein simples manichäisches Weltbild vertreten und dass das in ihnen angelegte Gewaltpotenzial unvermeidlich zum Ausbruch kommt. Denn in der Realität wird die Ambivalenz des Sakralen durch die Ambivalenz der menschlichen Lebenswirklichkeit überlagert und dadurch in seiner Komplexität gesteigert. Die meisten Religionen tragen dieser Ambivalenz menschlicher Lebenswirklichkeit Rechnung. Die oftmals gleichnishaften und nicht immer widerspruchsfreien religiösen Vorschriften stecken einen weiten Auslegungs- und Anwendungsspielraum ab, der im Prinzip die Möglichkeit bietet, den vielfältigen Lebenssituationen gerecht zu werden. So legen z.B. die Auseinandersetzungen um die Konzepte des Heiligen und des Gerechten Krieges in der Geschichte des Christentums und des Islams ein beredtes Zeugnis von der Problematik der Legitimation von Gewalt ab, die keineswegs immer simplen manichäischen Dualismen folgten und darüber hinaus durch die Debatten um die Konzepte des ius ad bellum und des ius in bello weiter differenziert wurden.
Diese Beispiele deuten die Spannweite möglicher Interpretationen eines Korpus religiöser Traditionen an. Auf der einen Seite besteht durch die Verschließung gegenüber den Ambivalenzen menschlicher Lebenserfahrungen und der überlieferten Tradition die Möglichkeit der Degeneration zu einer dogmatischen religiösen Ideologie, die zur Erreichung ihrer Ziele keine Skrupel vor Gewaltanwendung kennt. Auf der anderen Seite kann durch eine Reinterpretation desselben Korpus die Offenheit für die Ambivalenz menschlicher Lebenserfahrungen wieder gewonnen und dadurch die ideologiekritischen Potenziale entfaltet werden, die es erlauben, ebenfalls im Namen einer sakralen Wahrheit, die realen gesellschaftlichen, politischen und religiösen Verhältnisse zu kritisieren. Zweifelsohne unterliegt dieses ideologiekritische Potenzial von Religionen auch der Gefahr, zur Ideologie zu verkommen.
Die verschiedenen Religionen treten uns nicht als monolithische Blöcke entgegen. Im Gegenteil zeichnen sie sich durch eine interne Pluralität verschiedener konkurrierender Strömungen aus. Innerhalb jeder dieser Strömungen ist darüber hinaus mit verschiedenen Traditionsschichten zu rechnen, welche die Ambivalenz und Komplexität der jeweiligen Religionen weiter erhöhen. Aufgrund dieser Komplexität kann zwangsläufig keine Interpretation die Essenz einer Religion repräsentieren, sondern wir begegnen immer selektiven Interpretationen, die einen Aspekt der jeweiligen Tradition zugespitzt formulieren, indem sie ihn im jeweiligen Erfahrungshorizont interpretieren.
Trotz dieser vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten zeichnet sich über den empirischen Vergleich gewaltlegitimierender Politischer Theologien und ihrer Bewegungen doch ein gewisses Grundmuster ab, das man aufgrund seiner dogmatischen Verschließung gegenüber der Ambivalenz der menschlichen Lebenserfahrung als religiöse Ideologie oder Fundamentalismus bezeichnen kann und das folgende Elemente enthält: - Es wird der Anspruch erhoben, zu den ursprünglichen Quellen der eigenen Tradition zurückzukehren und sie von den Verfälschungen ihrer historischen Entwicklung zu befreien, die zumeist als ein Degenerationsprozess begriffen wird. - Die durch diesen mythischen Regress freigelegten Gesetze und Gebote der Gründerfiguren der eigenen Tradition werden ihres historischen Kontextes entkleidet und transhistorisch und literalistisch auf die eigene Zeit übertragen. Dem Prozess der Enthistorisierung entspricht auf der anderen Seite eine Essenzialisierung der eigenen Tradition, die den Anspruch erhebt, das wahre Wesen der eigenen Religion freigelegt zu haben. - Im Gegensatz zu diesem Anspruch, zur wahren Lehre zurückzukehren, entsteht jedoch in den meisten Fällen eine moderne religiöse Ideologie, mit der der Anspruch auf Regelung sämtlicher Lebenssphären verbunden wird. Trotz dieser antiliberalen und antimodernistischen Stoßrichtung rezipieren diese religiösen Ideologien das modernistische Paradigma der prinzipiellen Gestaltbarkeit der Gesellschaft durch politische Herrschaft. - Ausgehend von einer Krisendiagnose der eigenen Zeit wird diese Ungerechtigkeitserfahrung im Lichte eines welthistorischen oder sogar metaphysischen Konfliktes zwischen Gut und Böse gedeutet. - Eng mit diesem manichäischen Dualismus ist eine apokalyptisch-messianistische Geschichtsdeutung verbunden, welche die eigene Gegenwart am Ende der Zeiten wähnt. Der daraus abgeleitete Exzeptionalismus befreit die Gläubigen von den üblichen Fesseln, welche die Ambivalenz des Sakralen der Gewaltanwendung anlegt, und setzt damit eine ungeahnte Gewaltbereitschaft frei, die nicht vor der Opferung des fremden und des eigenen Lebens zurückschreckt. - Der Opferung des eigenen Lebens, die aus dem Krieger einen Märtyrer macht, der für seinen Glauben Zeugnis ablegt, entspricht die Entmenschlichung des Feindes, wodurch auch die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten aufgehoben wird. In einem kosmischen Krieg kann es keine Zivilisten geben. - Der diese Radikalisierung stützende Wahrheits- und Unfehlbarkeitsanspruch schließt konsequenterweise die Möglichkeiten von friedlichen Lösungen und Kompromissen weitgehend aus. Der Kampf gegen das "Böse" duldet keinerlei Zugeständnisse. Gemäßigte Personen und Parteiungen, die Schlichtungsvorschläge unterbreiten, laufen Gefahr, mit mindestens der gleichen Vehemenz bekämpft zu werden wie der Feind. - Dieser religiöse Fanatismus kann dazu führen, dass selbst ein aussichtsloser Kampf, der keinerlei absehbaren Erfolg verspricht, fortgeführt wird in der Hoffnung, dass Gottes Wirken in der Weltgeschichte der eigenen Partei den Sieg schenken wird, auch wenn ihn erst die nächste oder übernächste Generation erleben wird. - Das Ziel dieses kompromisslosen Kampfes bleibt ein zukünftiges Friedensreich, das Gewalt, Konflikte und Ungerechtigkeiten endgültig überwindet. In der Regel bleibt Gewalt das Mittel zu einem höheren Zweck und verdeutlicht auch in diesem Falle die eigentlich friedensstiftende Intention von Religion. - Ein gerechter Frieden ist oftmals aber nur als eine Wiedererrichtung der Herrschaft Gottes und seiner Gesetze in Form einer Theokratie denkbar. Dies ist insbesondere bei den so genannten jüdischen, christlichen und islamischen Fundamentalisten der Fall.
Es bleibt noch zu klären, unter welchen äußeren Umständen die ursprünglich friedensliebende Intention der Religionen in eine Radikalisierung der Politischen Theologien und des religiösen Denkens und Empfindens der Menschen umschlagen kann und zu einer gewaltsamen Eruption treibt.
Die äußeren Ursachen politisch-religiöser Konflikte
Zunächst müssen wir davon ausgehen, dass die Radikalisierung und Fanatisierung von Religionsgemeinschaften durch existenzielle Krisen und Bedrohungen ausgelöst wird. Denn nur diese stellen den Leidensdruck zur Verfügung, die Gefahren und Risiken einer gewaltsamen Durchsetzung der eigenen Position in Kauf zu nehmen, die immer als geringer eingeschätzt werden müssen als diejenigen, die mit der Akzeptanz des status quo einhergehen. Aber mit dieser Feststellung ist die entscheidende Frage, welcher Art die Bedrohung ist und welche Motive die Menschen zur Gewalt treiben, noch nicht beantwortet.
Ist es denkbar, dass sich Menschen aus rein theologischen Motiven zur Gewalt hinreißen lassen? Sind z.B. die in der Geschichte desChristentums aufgetretenen gewaltsamen Konflikte um die Dreifaltigkeit, das Laienpriestertum, das Abendmahl, den Bildersturm usw. nur auf theologische Differenzen zurückzuführen? Ist also in diesem Zusammenhang religiös mit theologisch gleichzusetzen? Oder muss der Begriff der religiösen Motivation weiter gefasst werden, so dass er auch z.B. die Praktizierung des jeweiligen Religionskultes umfasst und die gewaltsame Verteidigung der eigenen Religionsfreiheit als religiös motiviert gilt? Werden Religionsfreiheiten nur eingeengt wegen theologischer Differenzen, wie z.B. die Bekämpfung der aztekischen Menschenopfer durch die Conquistadores und das Verbot der indischen Witwenverbrennung durch die Briten? Oder werden andere Religionen bekämpft, weil ein göttlicher Missionsauftrag dies fordert, wie z.B. bei der Ausbreitung des Islams oder der mongolischen Reichsbildung des hohen Mittelalters oder weil Häresien eine politische Bedrohung darstellen, wie z.B. das Christentum im Römischen Reich, die mittelalterlichen Katharer und die protestantische Reformation? Warum greifen mittelalterliche Sekten zur Gewalt gegen die sie umgebende Gesellschaft? Sind es die sozio-ökonomischen Bedingungen, welche die Menschen in die Verzweiflung treiben, oder ist es das messianische Heilsversprechen eines Neuen Jerusalems? Die gleichen Fragen können für die Religionskriege der Frühen Neuzeit wie für die religiösen Konflikte der Gegenwart gestellt werden.
Angesichts dieses skizzenhaften Befundes ist es angebracht, im Falle religiös durchdrungener Konflikte von vielfältigen Ursachen auszugehen, die sowohl theologische, religiöse, politische, soziale, ökonomische, ethnische und nationale Motive umfassen können. Wenn wir uns den gegenwärtigen politisch-religiösen Konflikten zuwenden, dann finden wir in den meisten Fällen an den Wurzeln dieser Konflikte einen Ursachenmix, der sich einem monokausalen Erklärungsansatz entzieht. In jedem Fall aber steht am Beginn eines politisch-religiösen Konfliktes eine objektive und/oder subjektiv wahrgenommene Ungerechtigkeitserfahrung, das Gefühl, nicht nur unter Druck zu stehen, sondern existenziell bedroht zu sein. Diese relative Deprivation kann sich aus unterschiedlichen Quellen speisen, wie z.B. ungerechter politischer (Fremd-)Herrschaft, ökonomischer Deklassierung und sozialen Abstiegsängsten, ebenso wie durch Auflösungserscheinungen tradierter Lebenswelten, die durch Globalisierungsprozesse ausgelöst werden.
Wenn nun an der Wurzel eines politisch-religiösen Konfliktes nicht explizit religiöse Ursachen stehen, dann stellt sich die Frage, wie "die Religion" in den Konflikt hineingerät? Ein möglicher Erklärungsansatz besteht darin, dass mit diesen Krisenerfahrungen zumeist auch geistige Entfremdungserfahrungen einhergehen. Die spirituelle Krisensituation wird oftmals durch die Erschöpfung alter Sinn- und Orientierungssysteme ausgelöst - wie z.B. Sozialismus, Panarabismus, Liberalismus, Säkularismus -, mit deren Hilfe die politischen Eliten nicht in der Lage oder nicht willens waren, die gesellschaftlichen Ordnungsprobleme zu lösen und berechtigten Forderungen nach Reformen entgegenzukommen. In dieses geistige Vakuum können dann die wiederbelebten Traditionen vorstoßen, die religiöse Antworten auf Krisenphänomene der modernen Welt geben.
Eine Folge davon ist die Tendenz, die Diagnostik und Therapie der Krisenerfahrungen nicht in den Kategorien der Sozialwissenschaften zu formulieren, sondern unter Rückgriff auf tradierte religiöse und kulturelle Konzepte, die angesichts der Krisenerfahrung, moderne Elemente aufgreifend, reinterpretiert werden. Diese religiösen Antworten sind aber keine spirituelle Flucht in ein Jenseits, die einen politischen Quietismus diktieren, sondern fordern im Gegenteil innerweltliches Engagement durch sozialen und politischen Aktivismus. Deshalb verschmelzen die religiösen Motive mit einer Vielzahl weltlicher Motive, was es in jedem einzelnen Fall schwierig macht, die religiöse Komponente innerhalb eines Konfliktes zweifelsfrei zu isolieren, weil das "Religiöse" im Selbstverständnis der Akteure gar nicht eindeutig von dem "Sozialen" oder dem "Politischen" getrennt ist.
Zwar ist es richtig, dass bei den gegenwärtigen politisch-religiösen Konflikten nicht religiös-theologische Differenzen die primären Ursachen dieser Konflikte sind, aber es ist auch irreführend, "die Religion" als intervenierende Variable zu interpretieren, insoweit sie als solche aufgrund der Verschmelzung mit anderen Motiven gar nicht eindeutig identifiziert werden kann. Diese Schwierigkeit besteht nicht nur deshalb, weil sich "die Religion" durch weltliche Motive kompromittieren lässt, sondern weil Religion auch weltliche Ordnungsvorstellungen beinhaltet. So lassen sich politische und religiöse Konfliktursachen nicht immer trennen, weil das Politische religiös konstituiert ist oder ethnische Konflikte zugleich religiös motiviert sind, weil religiöse Differenzen konstitutiv für ethnische Differenzen sind oder sozio-ökonomische und politische Missstände religiös interpretiert werden. Zwar können nicht-religiös motivierte Konflikte durch die Instrumentalisierung der Religion eskalieren und das Konfliktverhalten nachhaltig radikalisieren. Aber es ist a priori nicht festzustellen, wann ein originär religiöses Konfliktmotiv vorliegt und wann die Religion aus säkularen Motiven heraus instrumentalisiert wird. Beide Varianten sind möglich.
Darüber hinaus kann sich die Motivlage imRahmen eines Konfliktes auch verändern, und ursprüngliche Motive können durch andere ersetzt werden. Außerdem müssen nicht alle beteiligten Akteure die gleichen Motive haben. Die einen handeln aus religiösen Motiven, die anderen aus ökonomischen und eine dritte Gruppe aus wieder anderen Gründen heraus. Es muss also die Pluralität der Motivlagen zwischen den Streitparteien, aber auch innerhalb der beteiligten Streitparteien berücksichtigt werden. Wie sich diese Ursachen- und Motivlagen im Einzelnen zusammensetzen, kann nur eine detaillierte empirische Analyse jedes Einzelfalles klären, um die verschiedenen Konfliktdimensionen differenziert zu erfassen.
Wie notwendig es ist, eine differenzierte Bestandsaufnahme der verschiedenen Motive, Diskursstrategien und Politiken vorzunehmen, zeigt z.B. die Analyse des islamischen Diskurses in Malaysia, wo sowohl konservative bis fundamentalistische Gruppierungen als auch progressive muslimische Stimmen neben einem rein instrumentellen Rekurs auf islamische Politische Theologien vernommen werden können, mit denen jeweils unterschiedliche politische, soziale und ökonomische Interessen formuliert werden. Während die malaysische Debatte bisher nur zu einer teilweisen rhetorischen Radikalisierung politisch-theologischer Positionen geführt hat, wurde in Indonesien mit der Erschöpfung der nationalen und überkonfessionellen Zivilreligion der Pancasila der islamische Diskurs nicht nur rhetorisch radikalisiert, sondern ist durch die Terroranschläge von Bali auch eskaliert. Aber auch in Indonesien zeigt sich, dass zwischen radikalen und gemäßigten muslimischen Kräften unterschieden werden muss, von denen die radikale Seite die Islamisierung Indonesiens anstrebt, während die gemäßigten Kräfte die Parlamentarisierung des Islams betreiben. Aber auch innerhalb des islamistischen Lagers, das die Errichtung eines Gottesstaates anstrebt, muss weiter differenziert werden zwischen solchen Kräften, die einen legalen Weg gehen wollen, und denjenigen, die entschlossen sind, den Gottesstaat auf revolutionärem Weg herbeizubomben. In diesem Fall stellen politische, soziale, ökonomische und kulturell-religiöse Marginalisierungserfahrungen einen günstigen Nährboden für die Radikalisierung zur Verfügung.
Was die Veränderung von Motivlagen über die Dauer eines langjährigen Konfliktes anbetrifft, so ist z.B. der israelisch-palästinensische Konflikt instruktiv. Dieser war ursprünglich kaum ein religiöser Konflikt, wenn man von den religiösen Konnotationen des Zionismus absieht, sondern ein politischer Konflikt zweier Ethnien um Land, Macht und Herrschaft sowie soziale und ökonomische Chancen und Ressourcen. Dieser Konflikt steigerte sich aber mit der Zeit auch in einen religiösen Konflikt, insoweit fundamentalistische Gruppen auf beiden Seiten an Bedeutung gewannen, welche die Auseinandersetzung in religiösen Termini deuten, so dass dieser Konflikt, zumindest was die radikal-religiösen Akteure anbelangt, mittlerweile als ethno-religiöser zu bezeichnen ist.
Im Falle des indisch-pakistanischen Kaschmirkonfliktes müssen die innen- und außenpolitischen Dimensionen unterschieden werden. Während die außenpolitische Dimension von offizieller Seite kaum religiöse Aspekte aufweist, sondern territoriale Ansprüche im Vordergrund stehen, werden durch die teilweise Entstaatlichung des Konfliktes durch islamische Guerillakämpfer und durch den innenpolitischen Bedeutungsanstieg des Hindunationalismus in Indien und des Islamismus in Pakistan verstärkt religiöse Komponenten in den Konflikt hineingetragen.
Aufgrund dieser vielfältigen Motivlagen ist es deshalb angemessener, nicht pauschal von Religionskriegen, sondern von politisch-religiösen Konflikten zu sprechen. Je stärker allerdings die religiöse Komponente entwickelt ist, desto verbitterter wird der Konflikt ausgetragen. Obwohl die Religionen in diesen Fällen nicht als konfliktursächlich zu bezeichnen sind, so wirken sie dennoch konfliktstrukturierend, insoweit sie die Konfliktlinien festlegen, und konfliktverschärfend, insoweit sie den Konflikt radikalisieren.
Ethno-religiöse Konflikte
Die Brisanz der Vermischung religiöser und weltlicher Motive und die Schwierigkeiten, diese zu trennen, zeigen sich am deutlichsten an den ethno-religiösen Konflikten im Nahen Osten, in Nordirland, im ehemaligen Jugoslawien, in Sri Lanka und in vielen afrikanischen Bürgerkriegen. In diesen Fällen handelt es sich um gewaltsam ausgetragene Konflikte konkurrierender sozio-politischer Identitäten um politische Hegemonie bzw. Autonomie und damit um politische Loyalitäten, soziale Chancen und ökonomische Ressourcen. Auf der einen Seite spielen bei diesen Konflikten die religiösen Differenzen im Sinne theologischer Differenzen bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Aus dieser Perspektive betrachtet, kann man in diesen Fällen keinesfalls von Religionskonflikten sprechen. Auf der anderen Seite spielen die Religionen aber für die Konstituierung der ethnischen Identitäten eine entscheidende Rolle. Dies hängt u.a. damit zusammen, dass im Falle Nordirlands und des ehemaligen Jugoslawiens andere Unterscheidungskriterien, wie z.B. die Sprache, nicht zur Verfügung stehen oder nur schwach ausgeprägt sind. Im Falle Sri Lankas und vieler afrikanischer Konflikte spielen sprachliche Differenzen eine Rolle, sind aber in eine religiös konstituierte ethnische Identität eingebunden, welche die sprachliche Differenz in ihrem Stellenwert relativieren. In diesen Fällen kommt der Religion eine bedeutende Rolle bei der Konstituierung sozialer Identitäten und damit politisch relevanter Gruppen zu.
Die Gefahr des Ausbruchs ethno-religiöser Konflikte ist besonders hoch, wenn eine ethnisch-religiöse Minderheit majorisiert und damit in politischer, sozialer, ökonomischer und kultureller Hinsicht marginalisiert wird, weil die staatlichen Eliten entweder nicht die Fähigkeit oder nicht den Willen haben, eine gerechte Güterverteilung zwischen den Ethnien herzustellen. Entscheidend ist dabei weniger die objektive Lage der beteiligten Ethnien, sondern die subjektive Wahrnehmung ihrer Position in der Gesellschaft, die durchaus von den objektiven Rahmenbedingungen abweichen kann. So betrachten sich in Nordirland Katholiken und Protestanten als bedrohte Minderheiten, obwohl die demographische, soziale und ökonomische Entwicklung beider Gruppen diese Wahrnehmung nicht mehr stützt. Noch deutlicher wird das Gewicht der subjektiven Wahrnehmung im Falle der Singhalesen auf Sri Lanka, die eindeutig die überwältigende Mehrheit der Inselbewohner stellen, sich aber dennoch als eine von hinduistischen, muslimischen und christlichen Feinden umzingelte Minderheit betrachten. Damit soll nicht behauptet werden, dass diesen Wahrnehmungen keine realen Erfahrungen zugrunde liegen, aber oftmals geht die Verhältnismäßigkeit von Erfahrung und symbolischer Deutung verloren mit der Konsequenz, dass insbesondere von interessierten Eliten exklusive ethnische Identitäten formuliert und propagiert werden. Diese bauen eine defensive, sektiererische Verteidigungshaltung auf, aus der heraus aggressiv gegen den Gegner agiert wird.
Die Herausbildung einer exklusiven ethnischen Identität wird durch die Instrumentalisierung ihrer religiösen Aspekte unterstützt, indem eine Sakralisierung der eigenen Ethnie betrieben wird. Das Resultat sind Politische Theologien, die in unterschiedlichem Grade die genannten fundamentalistischen Elemente aufweisen. Diese Politischen Theologien können, soweit sie neben ihrem Bezug auf einen transzendenten Seinsgrund (Gott) das Göttliche in der eigenen Ethnie finden, als innerweltliche Religionen bezeichnet werden. Diesen Ethno-Religionen kommt eine Doppelfunktion zu. Sie verfolgen auf der einen Seite als Politische Theologien das politisch-religiöse Interesse am Heil des Menschen, das in einer ethno-religiös homogenen, selbstbestimmten politischen Gemeinschaft gesucht wird. Auf der anderen Seite stützen diese Politischen Theologien aber auch eine theologische Politik, indem diese aus dem politisch motivierten Interesse an der Stabilisierung von Herrschaft einen instrumentellen Rückgriff auf die Politische Theologie zulassen. In diesem Sinne kann man von der Politisierung der Religion sprechen.
Die politischen Folgen dieses instrumentellen Rückgriffs einer theologischen Politik auf die Politische Theologie sind bekannt. Die Radikalisierung und Fanatisierung der zunächst auf kleinere Kulturmilieus beschränkten ethno-religiösen Krieger kann, wenn diese Position politisch dominant wird, zu ethnischen Säuberungen führen, deren wichtigstes Ziel neben der Herstellung einer homogenen Bevölkerung auch die Rückeroberung der eigenen terra sancta ist, wie z.B. in Jugoslawien, auf Sri Lanka, im israelisch-palästinensischen und im pakistanisch-indischen Konflikt. Die Überwindung dieser Radikalisierung, die mit entsprechender Kompromisslosigkeit und Gewaltbereitschaft einhergeht, stellt die große Herausforderung religiös-politischer Konflikte dar.
1 Bei diesem
Beitrag handelt es sich um eine stark gekürzte Fassung meines
Aufsatzes Unfriedliche Religionen? Das politische Gewalt- und
Konfliktpotenzial von Religionen, in: Mathias Hildebrandt/Manfred
Brocker (Hrsg.), Unfriedliche Religionen? Das politische Gewalt-
und Konfliktpotenzial von Religionen, Wiesbaden 2005, S. 9-35. Dort
findet sich auch weiterführende Literatur, auf deren Nennung
ich hier aus Platzgründen verzichtet habe.