Zum elften Mal sind die Spitzen des Staates, Parlamentarier
und Gäste am 29. Januar im Plenarsaal des Bundestages
zusammengekommen, um der Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken.
"Deutschland hat nicht vergessen und aus dem Entsetzen über
den Terror der NS-Diktatur die Lehre gezogen, sich allen Formen von
Extremismus, Rassismus und Antisemitismus entschieden
entgegenzustellen", bekräftigte Bundestagspräsident
Norbert Lammert in seiner Rede. Dazu gehöre auch, dass
Aussagen, die die historische Wahrheit des Holocaust leugnen oder
relativieren wollen und damit die Opfer der nationalsozialistischen
Diktatur verhöhnen, unter Strafe gestellt sind.
In diesem Zusammenhang erinnerte er an die gemeinsame
Erklärung des Deutschen Bundestages, mit der die wiederholten
"unerträglichen Äußerungen des iranischen
Präsidenten, in denen er fortwährend sowohl das
Existenzrecht Israels bestreitet als auch den Holocaust leugnet,
einmütig und unmissverständlich" verurteilt würden.
Lammert geißelte auch die internationale Konferenz zu Fragen
des Holocaust an den europäischen Juden in der iranischen
Hauptstadt Teheran als "skanalös". In einem Brief an den
Präsidenten Irans habe er nicht nur den deutschen Protest
ausgedrückt, sondern auch nachdrücklich jeden Versuch
verurteilt, unter dem Vorwand wissenschaftlicher Freiheit und
Objektivität antisemitischer oder antisraelischer Propaganda
ein öffentliches Forum zu bieten.
Existenzrecht Israels Ausdrücklich bekannte Lammert sich
zur besonderen deutschen Verantwortung und Verpflichtung für
den Staat Israel und zur entschiedenen deutschen Haltung
gegenüber allen, die das Existenzrecht Israels bestreiten.
Harsche Kritik übte er deshalb an den Nuklearplänen des
Iran: "Ein atomar bewaffneter Staat in seiner Nachbarschaft,
geführt von einem offen antisemitisch orientierten Regime, ist
nicht nur für Israel unerträglich. Die Weltgemeinschaft
darf eine solche Bedrohung nicht dulden", mahnte er.
Der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus sei
in der Abfolge der jährlichen Gedenktage nicht irgendeiner,
stellte Lammert fest, sondern gewissermaßen der erste. Er
erinnere an die "vielleicht größte Katast-rophe der
Menschheitsgeschichte, die in Europa stattgefunden hat und von
Deutschland verursacht wurde: eine von Menschen organisierte
Hölle der Entrechtung und Verfolgung". Auschwitz sei zugleich
als authentischer Ort des millionenfachen Mordes ein "Symbol
für den Zivilisationsbruch" geworden.
Nach Auffassung des Bundestagspräsidenten gehört die
Erfahrung des Holocaust zu den "ungeschriebenen
Gründungsdokumenten der zweiten deutschen Demokratie". Artikel
1 des Grundgesetzes habe die historische Einsicht formuliert, so
Lammert weiter, die nach den Erfahrungen der
nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit
staatliches Handeln wie persönliches Verhalten bestimmen
müsse: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Zwar
gelte dieser Satz nicht erst, seit es das Grundgesetz gibt,
räumte Lammert ein. Aber unsere Verfassung mache ihn zur
ausdrücklichen Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
"Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen",
zitierte der Bundestagspräsident den italienischen
Schriftsteller Primo Levi, einen der Überlebenden des
Holocaust. Dieser habe damit ganz gewiss nicht die schlichte
Erwartung gemeint, interpretierte Lammert, dass Geschichte sich
genau so wiederholen könnte. Eher habe er wohl die Tatsache
vor Augen gehabt, dass es der Mensch selbst ist, der
Humanität, Recht und Menschenwürde immer wieder
gefährdet. Darum, schlussfolgerte er, dürfen wir nie
verdrängen und nicht müde werden zu betonen, dass
Freiheit und Demokratie, Toleranz und Humanität keine
selbstverständlichen Gewissheiten sind, sondern das
fortdauernde Engagement jedes Einzelnen von uns voraussetzen.
"Geschichte vergeht nicht", stellte Lammert fest, "sie kann
auch nicht überwunden werden." Sie sei einerseits
Voraussetzung der Gegenwart, andererseits präge der Umgang mit
ihr auch die Zukunft jeder Gesellschaft. Folglich sei die Bewahrung
der Erinnerung, das nationale Gedächtnis, eine politische,
also gemeinsame Aufgabe.
Lammert wies darauf hin, dass es immer weniger Menschen gibt,
die als Überlebende noch persönliches Zeugnis von den
nationalsozialistischen Verbrechen ablegen könnten. Umso
entschiedener stellt sich nach seiner Ansicht die Frage, wie die
bezeugten Erinnerungen im Gedenken der zukünftigen
Generationen fortbestehen können.
Als Gastredner begrüßte der
Bundestagspräsident mit dem ungarischen
Literatur-Nobelpreisträger Imre Kertész einen
Überlebenden. Am 9. November 1929 in Budapest geboren, war
Kertész 1944 in das KZ Auschwitz verschleppt, später in
das Lager Buchenwald deportiert und von dort 1945 befreit worden.
Seine Lagererfahrung hat er in seinem "Roman eines Schicksallosen"
beschrieben, einem der bedeutendsten Erzählwerke über den
Holocaust. Als erster Ungar wurde Kertész 2002 mit dem
Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet für "ein
schriftstellerisches Werk, das die zerbrechliche Erfahrung des
Einzelnen gegenüber der barbarischen Willkür der
Geschichte behauptet".
Beim Nobel-Bankett in Stockholm habe Kertész seine
kurze Dankansprache auf Deutsch gehalten, betonte Lammert. Dabei
habe er hervorgehoben, für ihn sei der Holocaust, dem er nur
wie durch ein Wunder entkommen sei, "ein Thema nicht nur der
deutschen, sondern der europäischen Zivilisation". Er,
Kertész, habe das wahre Antlitz des Jahrhunderts gesehen und
könne heute davon berichten, auch wenn er sich nie ganz habe
befreien können. Das sei wohl, so hatte es Kertész
damals formuliert, eine "besonders grausame Form der Gnade".
Lesung statt Rede Er wolle keine der "üblichen" Reden am
Gedenktag für die NS-Opfer halten, hat Imre Kertész
kürzlich in seinem Interview mit dieser Zeitung (siehe Ausgabe
Nr. 4/5, Seite 3) gesagt. "Vom Holocaust war schon genug die Rede",
meinte er. Aus einem Roman vorzulesen, werde "viel schöner und
lebendiger sein". Und so las er bei der Feiersstunde aus seinem
Werk "Kaddisch (Trauergebet) für ein nicht geborenes
Kind":
"Ja, und gerade jetzt," so begann er, "in meiner tiefen,
dunklen Nacht, jetzt sehe ich eher als hörte ich diese
Konversation der Gesellschaft, ich sehe die melancholischen
Gesichter um mich herum, aber nur als Theatermasken mit ihren
jeweiligen Rollen, die des Lachenden und des Weinenden, des Wolfes
und des Lammes, des Affen, des Bären, des Krikodils, und
dieses Gezücht rumorte leise, wie in einem letzten
großen Sumpf, wo die Protagonisten, wie in einer
Äsopschen Horrorgeschichte, noch die letzte Konsequenz aus der
Geschichte ziehen, und jemand kam auf den melancholischen Einfall,
jeder möge sagen, wo er war, worauf die Namen, wie kraftlose,
vereinzelte Tropfen aus einer vorübergezogenen Wolke, zu
fallen begannen: Mauthausen, Donbogen, Recsk, Sibirien, das
Sammelgefängnis, Ravensbrück, die Fö utca,
Andrássy út 60, die Namen der
Deportationsdörfer, die Gefängnisse nach 1956,
Buchenwald, Kistarcsa, und schon fürchtete ich, an die Reihe
zu kommen, als mir zum Glück jemand zuvorkam: 'Auschwitz',
sagte jemand im bescheidenen, aber selbstsicheren Tonfall des
Siegers, und die Gesellschaft nickte: 'Unschlagbar'."
Unter weiter: "Dann tauchte ein damaliger Bestsellertitel auf
und ein Bestsellersatz aus dem Buch, Bestseller damals wie heute
und wie sicher immer und ewig, der Autor sprach ihn nach dem
gebührenden, aber natürlich vergeblichen Räuspern,
heiser und von Ergriffenheit bewegt aus: 'Für Auschwitz gibt
es keine Erklärung', so, kurz und bewegt, leise und mit
versagender Stimme, und ich erinnere mich an mein Erstaunen, wie
diese Gesellschaft, die meisten doch recht gewieft, diesen
einfältigen Satz aufgenommen, analysiert, diskutiert hat,
wobei sie hinter ihren Masken mit einem pfiffigen oder
unentschlossenen oder unverständigen Blinzeln hin und her
lugten, als sage dieser alle Aussagen im Keime erstickende
Aussagesatz irgend etwas aus, obwohl man nicht gerade ein
Wittgenstein zu sein braucht, um zu erkennen, dass der Satz schon
in puncto sprachlicher Logik falsch ist, dass sich in ihm
höchstens Wünsche, verlogene oder ehrliche kindliche
Moralität und verschiedene verdrängte Komplexe spiegeln,
davon abgesehen aber besitzt der Satz keinen Aussagewert."
Dass ein Mann mit der Biografie von Imre Kertész heute
in Berlin lebt und arbeitet, nannte Lammert einen "Beleg für
die Hoffnung, dass Europa eine Seele hat, die nicht verloren
gegangen ist".
Mehr zum Thema unter:
http://www.bundestag.de/aktuell/archiv/2007/gedenk_mitm/index.html
27. Januar: Holocaust-Gedenktag
- Nationaler Gedenktag Der Jahrestag der Befreiung des
Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 wurde 1996 von
Bundespräsident Roman Herzog zum offiziellen deutschen
Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus erklärt.
Nach dem Willen des Initiators soll er als "nachdenkliche Stunde
inmitten der Alltagsarbeit" begangen werden. Dazu kommt der
Deutsche Bundestag alljährlich zu einer Feierstunde im
Plenarsaal zusammen. (In diesem Jahr fand diese Feierstunde am 29.
Januar statt, da der 27. Januar auf einen Samstag fiel.)
- Internationaler Gedenktag Die UNO hat den 27. Januar im Oktober
2005 offiziell zum internationalen Gedenktag erklärt.