GESUNDHEIT
Die klassische Kur ist tot. Es lebe Medical Wellness. Bad Krozingen hat sich auf die neuen Trends eingestellt.
Öl, überall Öl. Die Haut, die Haare, der Tisch, alles voll Öl. Splitternackt und ungelenk liege ich auf der Bank aus hartem Holz. Liegen? Glitschen trifft es besser. Ohne Hilfe könnte ich gar nicht mehr aufstehen. Die beiden indischen Therapeutinnen gießen immer neues Sesamöl über Rücken und Bauch. Es riecht erdig-würzig. Sechs Liter werden es am Ende sein. "Das Ölbad ist sehr gut für die Haut", sagt Deepa sanft. Das Stillliegen in Öl ist der Höhepunkt der Ayurveda-Behandlung. Zuvor hat Deepa jeden Fingerknöchel, jede Zehe, jeden Wirbel angefasst. Ihre Handgriffe waren mal flüchtig wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, mal erinnerten sie an das Klopfen einer Kokosnuss.
Die junge Frau arbeitet normalerweise im Panchakarma-Institut von Dr. Franklin in Kerala, im südwestlichen Zipfel Indiens, der Heimat von Ayurveda. Ayurveda ist Sanskrit und bedeutet Wissen vom Leben. Die traditionelle indische Medizin teilt die Menschheit in drei Gruppen ein: Es gibt die leichten Vatas, die erdenschweren Kaphas und die feurigen Pittas. Wenn diese drei Doshas außer Balance geraten, ist eine Behandlung angebracht - bestehend aus gesunder Ernährung, Bewegung und Entgiftung, zu der auch das Ölbad beiträgt.
Elegant wie eine Artistin hängt Deepa an einem Seil an der Decke. Mit dem rechten Fuß fährt sie auf meinem Bauch Schlittschuh. Von der ausgestreckten Hand über den Arm, die Brust bis zum Bauchnabel. "High or low pressure?", stärker oder lieber ein wenig schwächer? Mit den Füßen massiert zu werden ist gewöhnungsbedürftig - in Indien normal. Wer will, kann sich auch einen Stirnguss verabreichen lassen. Heißes Kräuteröl fließt über den Kopf und nimmt alles mit: Stress, Unruhe, Zeitgefühl. Im Garten wartet ein beeindruckender Holzbottich mit 36 Grad warmem, sprudelndem Wasser.
Jetzt ist wieder alles klar: Das ist nicht Kerala, Südindien, das ist Bad Krozingen, Südbaden. Eines der erfolgreichsten und modernsten Kurbäder in Baden-Württemberg.
Der 16.000 Einwohner zählende Gemeinde im Markgräflerland gehörte zu den Ersten, die sich daran machten, die Kurkrise mit eigenen Mitteln zu beheben. 1995 eröffnete die Therme "Vita Classica", 1998 das Saunaparadies, 2001 das Wohlfühlhaus und das Japanische Bad, 2006 das Ayurveda-Zentrum und das Türkische Bad. "Alle drei bis fünf Jahre muss ein Kurort etwas Neues anbieten, um attraktiv zu bleiben", sagt Rolf Rubsamen, Geschäftsführer der Kur- und Bäder GmbH. Angst vor Traditionalisten hat er nicht. Schließlich begann Krozingens Badgeschichte mit einem Irrtum: Eine Chemie-Fabrikant hatte 1911 am Ortsrand nach Öl suchen lassen. Gefunden wurde heißes Wasser. "Dass medizinisch am besten untersuchte Wasser der Welt", wie es stolz heißt - durchblutungsfördernd, blutdrucksenkend und Rheuma lindernd.
Der Umbau geschah aus Not. Krankenkassen und Rentenversicherungen sind nicht mehr so spendabel: Wurden in den 1980er-Jahren noch jährlich 800.000 offene Badekuren in Deutschland bewilligt, sind es heute nur noch 160.000. Im Ausland droht den 300 deutschen Kurorten außerdem Konkurrenz. Warum nicht dieses Jahr nach Italien oder Ungarn, nächstes Jahr vielleicht ins tschechische Marienbad?
Immer mehr gesetzliche Kassen locken mit Kuren im europäischen Ausland, sehr zum Ärger der deutschen Heilbäder und Kurbetriebe. Über den Preis könne der Wettbewerb nicht gewonnen werden, sagt Bäderchef Rubsamen. Aber vielleicht über den guten Ruf. Weshalb nicht die gleiche Strategie verfolgen: Wenn es die Deutschen ins Ausland zieht, können auch die Ausländer nach Deutschland gelockt werden. Das Beispiel Baden-Baden beweist es: Es gibt im Osten einen neuen Mittelstand, für den es schick ist, im Westen eine Kur zu machen. Experten schätzen, dass in Europa künftig 250 Millionen Euro pro Jahr in diese Branche fließen.
Mit Kneipps Klassikern und einem gepflegten Kurpark kommt kein Heilbad mehr über die Runden. Medical Wellness heißt die Zukunftshoffnung: Wohlfühlangebote mit medizinischem Nutzen unter ärztlicher Betreuung, privat finanzierte Auszeit für Körper und Seele statt kassenfinanzierter Kuraufenthalt. Thermen sollen die Schnittstellen bilden zwischen Gesundheit und Freizeit.
Das Malventee-Flair muss raus, Champagnerprickeln soll rein. Statt strengen Essenszeiten wird mit Langschläferfrühstück geworben. "Der Gast entscheidet", sagt Bäderchef Rubsamen und wirbt mit Mitternachtsschwimmen samt Sekt, Kerzen und Musik, Foto-Shootings und Beste-Freundinnen-Wochenenden um junge Gäste.
Bad Krozingen fühlt sich gerüstet: 18 Millionen Euro sind in den vergangenen zwölf Jahren in den Umbau der Bäder investiert worden. 1.500 Arbeitsplätze hängen am Geschäft mit der Gesundheit, vor wenigen Jahren waren es noch 2.000. Behandlungen gibt es selbstverständlich an sieben Tagen in der Woche, Massagen ohne Rezept von jetzt auf gleich. Übrigens: Ein dreistündiger Kurzurlaub Ayurveda kostet satte 197 Euro.
Gesund sein, gesund bleiben, gesund werden, das Thema hat Zukunft. Es gibt kaum eine Umfrage, in der nicht Gesundheit als wichtigster Glücksfaktor genannt wird. Gleichzeitig wächst der Leistungsdruck, altert die Bevölkerung. Rolf Rubsamen hat deshalb keine Angst vor der Zukunft.
Wer legt sich zum Gesundheitscheck schon freiwillig in ein Klinikbett? Medizin in gehobener Wellness- und Hotelatmosphäre, ohne Krankenhausmief, darauf setzen Reha-Kliniken und Luxushotels. Die Kliniken bauen nicht mehr belegbare Zimmer zu Hotelsuiten um, Luxushotels wie Brenner's Park-Hotel in Baden-Baden oder das Kempinski in Falkenstein arbeiten mit eigenen Ärzten zusammen. Medical Wellness heißt bei seriösen Anbietern fundierte ärztliche Betreuung und medizinischen Rat, Entspannung, gutes und gesundes Essen sowie Sport.
Ayurveda, Heilfasten, Hydrotherapie, Blutbildanalyse: Medical Wellness kann vieles sein. Doch nicht immer wird gehalten, was versprochen wird - aus Wellness wird Wellnepp. Der Begriff ist dehnbar und vor allem ungeschützt. Auch eine spärlich belegte Kurklinik mit einem Masseur und zwei Solarien kann mit pseudo-medizinischem Vokabular und dem Titel Medical Wellness werben. Konkurrierende Qualitätssiegel machen den Wellness-Dschungel nicht übersichtlicher.
Wie aber soll der Gast herausfinden, bei welchem Angebot er gut aufgehoben ist? Es gibt eine Menge schwarze Schafe, das weiß auch Lutz Lungwitz vom frisch gegründeten Deutschen Medical Wellness Verband. Um den Gästen die Orientierung zu erleichtern, entwickelt der Verband Qualitätskriterien und ein eigenes Prüfsiegel. Seriöse Anbieter müssen einen Arzt und einen Therapeuten im Haus haben, einen Abschlussbericht erstellen, die Anwendungen müssen auf standardisierten Therapieplänen basieren. Sowohl der Deutsche Wellness Verband wie auch der unabhängige Wellnesshotelführer Relax-Guide lassen seit einigen Jahren anonyme Tester prüfen, ob die Wohlfühloasen auch das einhalten, was die Hochglanzprospekte verheißen. Nach Angaben des Wellnessverbands erfüllen nur etwa zehn Prozent der untersuchten Hotels die Kriterien.
Praktiker Rubsamen bleibt skeptisch: Ein Gütesiegel ist ein Hinweis, mehr nicht. Die Überprüfung der Hardware sei einfach. Aber wer beurteilt die Software, also die Kompetenz? Wer entscheidet, ob die Massage gelungen, ob das Bad erholsam war? Deepa, die indische Therapeutin, hat ihre ganz eigenen Kriterien: Sie spürt, wenn die Energie fließt.