Reiseweltmeister
Komme was wolle, die Deutschen machen seit Jahren so viele Urlaubsreisen wie kaum ein anderes Volk
Man kann sich den deutschen Touristen so vorstellen, wie der Karikaturist Gerhard Haderer: Als fette Frau, mit dumm-feistem Lächeln sitzend auf den Schultern eines dünnbeinigen Schwarzafrikaners, der sie durch die Gegend trägt. Oder als Studienreisenden, der keine Gelegenheit auslässt, in der brütenden Hitze der Ruinenstadt Palmyra immer neue Fragen und selbst gegebene Antworten anzubringen und damit den Rest der Gruppe zur sprichwörtlichen Weißglut zu treiben. Oder als mückenstichversehrten, aber stolzen Hausbootkapitän auf den Wasserstraßen Mecklenburg- Vorpommerns.
Was immer man für ein Bild hat vom deutschen Touristen, der man ja jedes Jahr auch selber ist, für die Gesamtheit der deutschen Touristen gibt es nur ein treffendes Bild: Eine große, sirupartig träge Masse, die ausgebreitet liegt über die ganze Welt, hier stärker konzentriert als da und dort. Und diese Masse ist weder durch knapper werdende Saläre noch durch Naturkatastrophen, Epidemien oder Terroristen auf Dauer großräumig umzuleiten oder zu verändern. Dafür braucht es - wenn überhaupt - Jahrzehnte.
1995 haben die Deutschen 63 Millionen Urlaubsreisen mit mehr als fünf Tagen Dauer unternommen, im Jahr 2005 waren es 64,9 Millionen und 2006 64,4 Millionen Urlaubsreisen. So hat es die Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen (FUR) errechnet, die jedes Jahr rund 7.000 Bürger zu ihrem Reiseverhalten befragt. Der Stellenwert des Reisens ist damit ungebrochen hoch: Nicht wenige Umfragen dokumentieren, dass die Mehrheit der Deutschen lieber beim Essen spart und bei der Kleidung als beim Urlaub. In Italien oder Frankreich sehen diese Werte vollkommen anders aus.
Lieblingsland der Deutschen ist, und das war wohl schon immer so, Deutschland. 32 Prozent oder gut 20 Millionen Urlaubsreisen wurden 2006 vor allem nach Bayern und Mecklenburg-Vorpommern, aber auch in andere deutsche Bundesländer unternommen. Im Ausland stand 2006, wie auch schon in den Jahren zuvor, Spanien mit 14 Prozent aller Urlaubsreisen von mehr als fünf Tagen Dauer an erster Stelle, gefolgt von Italien (7,3 Prozent), Österreich (5,8 Prozent) und der Türkei (5,7 Prozent).
Rund vier Millionen Urlaubsreisen (6,7 Prozent) führten die Deutschen zu Fernreisezielen auf anderen Kontinenten, das sind in etwa so viele wie in den Jahren zuvor. Attentate oder Entführungen, so haben die Erfahrungen der letzten Jahre gezeigt, haben bei den größeren Reiseveranstaltern kaum zu Umbuchungen oder Stornierungen geführt. Die Deutschen lassen sich ihren Urlaub nicht so leicht vermiesen, Risiken werden verdrängt. Die touristische Nachfrage ist also ausgesprochen stabil, wie es die Forscher jedes Jahr aufs Neue formulieren.
Dennoch bewegt sich der touristische Markt. Es gibt selbst in der zähen Masse Wellen, von denen manche sich zu Strömungen auswachsen.
Eine Entwicklung, die schon seit mehreren Jahren andauert und jedes Jahr deutlicher wird, ist die Verlagerung von der einen großen Urlaubsreise zu mehreren kleinen, kürzeren Reisen. Die Kurzreisen, also jene unter fünf Tagen Dauer, werden seit Jahrzehnten immer mehr. So machten in den 70er-Jahren 23 Prozent der Deutschen eine Kurzurlaubsreise, im Jahr 2006 waren es 37 Prozent, Tendenz eindeutig steigend. 46,3 Millionen Kurzurlaubsreisen verzeichnete die FUR im vergangenen Jahr. Bei Marktführer Tui ist man hoch erfreut über die "hohen zweistelligen Zuwachsraten" im Bereich der Städtereisen. Die dauern meist nur ein verlängertes Wochenende und laufen so gut wie noch nie. Berlin und Hamburg stehen an der Spitze, erst danach kommen London oder Paris.
Diese Entwicklung zu kurzen Reisen wird befördert von den wirtschaftlich nach wie vor sehr erfolgreichen so genannten Billigfluglinien. Ob Ryanair, Air Berlin oder Germanwings - die von Verbraucherschützern oft erfolglos beanstandeten Lockvogelangebote à la "Fliegen zum Taxipreis" verfehlen ihre Wirkung nicht. Die zunächst völlig überhitzt geführte Klimaschutzdebatte ist schnell wieder abgeklungen. Die seit Jahrzehnten wiederkehrende Forderung, zuletzt erhoben durch den langjährigen Direktor des Umweltprogramms der Uno, Klaus Töpfer, endlich die Steuerfreiheit von Flugbenzin aufzuheben, verhallte fast ungehört.
Eine deutliche Verteuerung von Flugreisen wird von der Politik offenbar nicht gewollt, jede Regierung hat Angst vor einer so unpopulären Maßnahme und redet sich darauf hinaus, man könne dies nur in internationalem Einvernehmen machen, das aber niemals zu erzielen sein wird. In einer im Mai veröffentlichten Umfrage der FUR zur Akzeptanz klimaschonenden Verhaltens im Urlaub wird klar, dass die Deutschen von ihren liebgewonnen Reisegewohnheiten kaum Abstriche machen wollen, auch nicht der Umwelt zuliebe. Nur sieben Prozent der Deutschen wären bereit, ganz auf Flugreisen zu verzichten, ganze fünf Prozent geben an, bereits einmal für eine Flugreise eine Spende an eine Kompensationsagentur entrichtet zu haben, die das entstandene Kohlendioxid beispielsweise durch Finanzierung von Solarenergieprojekten in Indien wieder einspart. Immerhin 22 Prozent haben die Absicht, das in Zukunft zu tun.
Den Urlaub will man also nicht wegsparen, aber im Urlaub, da soll nach Möglichkeit gespart werden. Immer mehr Urlauber buchen All-inclusive-Reisen, bei denen von der Anreise bis zum Cocktail an der Strandbar alles im Voraus bezahlt wird, die Kosten somit relativ genau kalkulierbar sind. Alle Veranstalter verzeichnen deutliche Zuwächse in diesem Geschäft. In der Türkei oder der Dominikanischen Republik gibt es fast nur noch All-inclusive-Hotels, auch in Österreich setzen immer mehr Wirte auf dieses Konzept. 837 Euro haben die Deutschen im Schnitt 2006 pro Urlaubsreise ausgegeben -bei einer durchschnittlichen Dauer von 12,7 Tagen nicht besonders viel.
Auf der anderen Seite erfreut sich das Luxussegment hoher Zuwachsraten. Die großen Reiseveranstalter gaben in den vergangenen Jahren stets dicke Kataloge heraus, die mit Deluxe oder Premium überschrieben sind und Reisen in Fünf- und Mehrsterne-Hotels nach Mauritius oder Dubai für mehrere Tausend Euro anbieten. Dertour-Geschäftsführer Michael Frese rechnet etwa in den nächsten 20 Jahren mit der Zunahme der Zahl der Premiumkunden um 20 Prozent. Im vergangenen Jahr gingen laut FUR immerhin zwei Millionen Reisen für mehr als 4.500 Euro pro Kopf über den Ladentisch.
Hier die ganz Reichen, dort die große Masse derjenigen, die das Internet nach günstigen Flügen oder Reisen durchforsten: 19 Prozent der Deutschen haben laut FUR bereits einmal eine Reise im Internet gebucht, 39 Prozent nutzten es bereits zur Informationsbeschaffung. Das wird in den nächsten Jahren noch zunehmen, wenngleich nicht so stark wie oft prognostiziert. Bei der großen Mehrheit der übers Internet gebuchten "Reisen" handelt es sich nämlich nur um Flüge. Die klassische Pauschalreise, deren Ende auch immer wieder mal vorausgesagt wird, erfreut sich ebenfalls konstanter Beliebtheit (46,5 Prozent aller Urlaubsreisen 2006) und wird vor allem im herkömmlichen Reisebüro gebucht. Die Informationsflut, die sich über den Internetnutzer ergießt, führt dazu, dass der völlig überfordert ist und dankbar die Ratschläge der Reisebüromitarbeiter annimmt. Das haben Online-Reiseanbieter wie etwa "weg.de" oder Reiseverkaufsender wie "Sonnenklar TV" erkannt und richtige Reisebüros eröffnet.
Ein weiterer Trend, der schon länger anhält und sich jedes Jahr verstärkt, ist die Nachfrage nach gesundheitlich sinnvoller Betätigung im Urlaub. "Prävention" ist das Stichwort, das sich Tui als erstes auf die Fahnen geschrieben hat und das auf große Nachfrage stößt. In Kooperation mit zwei Krankenkassen können die Gäste in ihrem Urlaubshotel Kurse für Rückenschule oder Entspannungstechniken belegen, die ihnen bis zu einem Höchstbetrag von 150 Euro von den Kassen erstattet werden. Tui-Manager Mehdi Langanke war geardezu "überrascht", wie schnell diese vor zwei Jahren eingeführten Angebote angenommen wurden.
Und so kann es gut sein, dass der Tourist 2020, den der Karikaturist Gerhard Harderer vielleicht noch zeichnen wird, ganz anders aussieht: Drahtig und zäh, auf seinen Schultern einen Afrikaner, den er zu Trainingszwecken einmal um die All-inclusive-Anlage trägt.