Polen
Am 21. Oktober wird das Parlament gewählt. Ein heißer politischer Herbst kündigt sich an.
Es ist eines jener Plakate, wie sie Werbefirmen aufstellen, um für Zigaretten und Luxuslimousinen zu werben, wenige Meter von der Autobahn entfernt, auf einem hohen Sockel, weithin sichtbar. Doch jetzt zeigt das Plakat nur einen kurzen Schriftzug in schwarzer Farbe, leicht bedrohlich wirkt es und überhaupt nicht wie eine Reklame: "Aggression" steht darauf. Und im zweiten Schriftzug, etwas kleiner darunter: "PiS regiert und Polen schämt sich dafür."
PiS ist Polens Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit". Das Plakat stammt von der größten Oppositionspartei im polnischen Parlament, der "Bürgerplattform" (PO), was jeder weiß, obwohl es - entgegen der Wahlordnung - nicht draufsteht. Es ist Wahlkampf in Polen, am 21. Oktober werden ein neuer Sejm und einer neuer Senat gewählt.
Die Entscheidung des derzeitigen Parlaments, seine eigene Legislaturperiode zu verkürzen, war der Kulminationspunkt eines langen Zerfallsprozesses einer Regierungskoalition, die so eigentlich nie geplant war. Aus einem sehr langweiligen Wahlkampf waren 2005 die rechtspopulistische PiS und die liberalkonservative Bürgerplattform als Sieger und natürliche Koalitionskandidaten hervorgegangen. Der anschließende Präsidentschaftswahlkampf, in dem beider Spitzenkandidaten, Lech Kaczynski (PiS) und Donald Tusk (PO), gegeneinander antraten, hatte die Parteien dann aber so entzweit, dass an eine Koalition nicht mehr zu denken war. Daraufhin hatte sich eine PiS-Minderheitsregierung zunächst von zwei kleinen, radikalen Parteien, der nationalkatholischen "Liga der Polnischen Familien" (LPR) und der radikalpopulistischen "Bauernselbstverteidigung" tolerieren lassen und sie später in die Regierung aufgenommen. Der Pakt basierte von Anfang an auf gegenseitiger Erpressung und sich "in Schach halten"; die Partner drohten einander ständig mit Neuwahlen, je nachdem, wie die Umfragewerte gerade aussahen. Die Regierung war schwach und instabil, ständig wurden Minister wegen angeblichem Loyalitätsmangel gegenüber den extrem misstrauischen starken Männern im Hintergrund, Präsident Lech Kaczynski und dessen Zwillingsbruder Jaroslaw, gefeuert.
Als erstes traf es den konzilianten, im Volk populären Premierminister Kazimierz Marcinkiewicz, der, obwohl er weder Englisch- noch Finanzkenntnisse hatte, auf einen Direktorenposten zur Europäischen Entwicklungsbank nach London abgeschoben wurde. Jaroslaw Kaczynski wurde selbst Premierminister, doch nicht einmal er konnte die Partei erfolgreich zusammenhalten. Eine Gruppe nationalkatholischer Abgeordneter verlies die Partei, als ihr Versuch, den Schutz des ungeborenen Lebens in die Verfassung zu schreiben, am Widerstand der Parteiführung scheiterte. Prominente Politiker, wie der angesehene Außenminister Stefan Meller und der überaus populäre und in den USA angesehene Verteidigungsminister Radoslaw Sikorski wurden geschasst und durch blasse, misstrauische, manchmal geradezu paranoide Bürokraten ersetzt. Bald fanden Außenpolitik und Diplomatie gar nicht mehr statt, denn die neue Außenministerin Anna Fotyga konzentrierte sich darauf, ihr Ministerium von Beamten zu säubern, die unter ihren Vorgängern gedient hatten und deshalb a priori als illoyal galten. Über ein Dutzend Botschafterposten, darunter Schlüsselposten bei der EU und der portugiesischen Präsidentschaft blieben monatelang unbesetzt, ein Teil ist es bis heute.
Ein ums andere Mal kassierte der Verfassungsgerichtshof Gesetzesnovellen als verfassungswidrig und zog sich den Zorn der Regierung zu, der im Parlament die zu Verfassungsänderungen notwendige Zweidrittelmehrheit fehlte. Am Ende versuchte ein Regierungsvertreter die Richter sogar als ehemalige Informanten der Geheimpolizei bloßzustellen: Sie seien befangen und dürften nicht über die Verfassungsmäßigkeit eines neuen Durchleuchtungsgesetzes befinden. Zwei Richter wurden von der Verhandlung suspendiert, doch die übrigen verwarfen das Gesetz dennoch mehrheitlich, die Vorwürfe gegen die Richter erwiesen sich als haltlos.
Ihre Wahlerfolge verdankten die Kaczynski-Brüder und PiS vor allem ihren Anti-Korruptionskampagnen, die eine in der Bevölkerung weit verbreitete Politikverdrossenheit, Ablehnung gegenüber angeblich korrupten und volksfremden Eliten und die Sehnsucht nach einfachen, klaren Verhältnissen ansprachen. Doch durch diese Kampagnen hatte sich das gesellschaftliche Bewusstsein für Korruption so verschärft, dass die Regierungsparteien schon bald selbst nicht mehr in der Lage waren, den hohen Erwartungen, die sie geweckt hatten, gerecht zu werden. Das Ende kam, als eine von der Regierung neu gegründete Anti-Korruptionsbehörde versuchte, den mehrfach vorbestraften und mit Korruptionsvorwürfen belasteten Parteichef, stellvertretenden Premierminister und Chef der Bauernselbstverteidigung, Andrzej Lepper, wegen Bestechlichkeit festzunehmen. Schnell wurde deutlich, dass Lepper offenbar gewarnt worden und die ganze Aktion eine polizeiliche Provokation gewesen war. Lepper verließ mit seiner Partei die Regierung, auch die "Liga der polnischen Familien" ging in die Opposition und in der PiS-Führung begann die Suche nach "Verrätern": Innenminister Janusz Kaczmarek wurde wegen angeblichem Geheimnisverrat entlassen, verhaftet (und von den Richtern gleich wieder freigelassen) und begann nun seinerseits Justizminister Zbigniew Ziobro zu belasten. Die ehemaligen Koalitionäre LPR und Selbstverteidigung brachten einen Antrag auf ein konstruktives Misstrauensvotum gegen Premier Kaczynski ein, mit Kaczmarek als Kandidaten für das Amt des Regierungschefs. Die Bürgerplattform beantragte ein Misstrauensvotum gegen sämtliche Minister der Regierung gleichzeitig, worauf Präsident Lech Kaczynski, um dem zu entgehen, alle Minister entließ und gleich wieder neu ernannte. Schließlich hatten auch die PiS-Abgeordneten genug und stimmten der Selbstauflösung des Parlaments zu.
Beobachter sind jedoch skeptisch, ob Neuwahlen tatsächlich einen Neuanfang nach zwei Jahren Diadochenkämpfen, Palastintrigen, chaotischen (und häufig verfassungswidrigen) Reformversuchen möglich machen. In den Umfragen liegen PiS und PO gleichauf, die beiden kleinen Regierungsparteien werden wahrscheinlich nicht mehr ins Parlament kommen. Dort wird eine neue Partei, die aus Abspaltungen der ehemaligen postkommunistischen Linken und der Freiheitsunion entstanden ist, auftauchen: die "Liberalen und Demokraten" (LiD), für die der ehemalige zweimalige Staatspräsident Aleksander Kwasniewski trommelt - und vermutlich das moderate Zünglein an der Waage, die Polnische Bauernpartei.
Doch was 2005 noch allen als natürliche Koalition erschien, ein Zusammengehen von PiS und PO, gilt nun als ausgeschlossen. Nach zwei Jahren PiS-Regierung hat sich die innenpolitische Lage in Polen so polarisiert, dass PO und LiD, aber auch die beiden kleinen ehemaligen PiS-Koalitionspartner einen Wahlkampf unter dem Motto "nie wieder PiS" führen. Hinzu kommt, dass zahlreiche moderate, liberale Politiker von PiS nun zur Bürgerplattform abwandern: Ex-Verteidigungsminister Sikorski ist einer der prominentesten. Ex-Premier Marcinkiewcz hat es abgelehnt, für PiS in den Ring zu steigen und bleibt in London.
Die Lücken füllt Parteichef Kaczynski nun mit Leuten von ganz rechts außen, aus dem Umfeld des nationalistischen Katholikensenders Radio Maryja und von rechtsradikalen Splitterparteien. So wird die Wahl zu einer Art Endkampf zwischen Gut und Böse hochstilisiert: Das weltoffene, proeuropäische und wirtschaftsliberale Polen auf der einen Seite gegen das nationale, misstrauische und soziale Polen. Oder, aus der Sicht der Wahlkampfstrategen der noch amtierenden Minderheitsregierung Kaczynski: Das Lager des "kleinen, aber ehrlichen Mannes" gegen die Parteien der aus Deutschland ferngesteuerten "Oligarchie".