Für Deutschland wie für andere Industrieländer ist seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein sukzessiver Anstieg der mittleren Lebenserwartung festzustellen. In den Jahren 1871/80 erreichte nur etwa ein Drittel der Bevölkerung das 60. Lebensjahr, um 1950 traf dies bereits auf über 75 Prozent und am Ende des Jahrtausends sogar auf annähernd 90 Prozent zu. 1 Die Entwicklung in den vergangenen Jahren deutet darauf hin, dass auch künftig mit einem Zugewinn an Lebenszeit zu rechnen ist. War es anfänglich die erfolgreiche Eindämmung der Infektionskrankheiten und der Säuglings- und Kindersterblichkeit, so ist mittlerweile die Verringerung der Sterblichkeit infolge chronischer Krankheiten in den höheren Altersstufen für die steigende Lebenserwartung maßgeblich. Fast zwei Drittel der vorzeitigen Sterbefälle entfallen - bei einer im Bevölkerungsdurchschnitt um etwa 2,5 Jahre pro Jahrzehnt steigenden Lebenserwartung - auf Herz-Kreislauf-Krankheiten, Krebserkrankungen und Krankheiten der Atmungsorgane.
Als Folge der steigenden Lebenserwartung wird ein zunehmend größerer Anteil der Menschen alt und sehr alt. Bereits im Jahr 2005 machten Personen über 65 Jahre etwa 19 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Nach Vorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes wird dieser Anteil bis zum Jahr 2050 auf über 30 Prozent anwachsen. 2 Der demographische Wandel stellt die Gesellschaft vor große Herausforderungen und macht umfassende Reformen der sozialen Sicherungssysteme notwendig. Aus Sicht von Public Health geht es deshalb schon lange nicht mehr nur darum, das Leben zu verlängern. Das Ziel ist vielmehr, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich die Menschen bis ins hohe Alter eine gute Gesundheit und Lebensqualität bewahren. Die Weltgesundheitsorganisation hat dies auf die Formel "Add life to years, not only years to life" gebracht. Angesichts der im Todesursachenspektrum vorherrschenden chronischen Krankheiten, die durch einen progredienten, also fortschreitenden Verlauf gekennzeichnet und nur eingeschränkt therapierbar sind, stellt sich allerdings die Frage, inwieweit dieses Ziel erreichbar ist. Viele Forscher gehen davon aus, dass sich zwar die vorzeitige Sterblichkeit, nicht aber das Auftreten der Krankheiten vermeiden lässt. Gerade die Erfolge der frühzeitigen Krankheitserkennung und -behandlung würden dazu beitragen, dass die hinzugewonnenen Lebensjahre größtenteils mit Krankheiten und Funktionseinschränkungen verbunden sind. 3 Ein optimistischeres Szenario vertritt der amerikanische Arzt James F. Fries. Nach seiner Auffassung ist vor allem eine Stärkung der Primärprävention dazu geeignet, der Entstehung der meisten chronisch-degenerativen Krankheiten entgegenzuwirken und deren Manifestation zeitlich hinauszuzögern. Da Fries gleichzeitig von einer genetischen Begrenzung der Lebensspanne ausgeht, würde daraus eine Beschränkung der Krankheitsphase auf einen kurzen Lebensabschnitt vor dem Tod resultieren ("compression of morbidity"). 4
Bei der Einschätzung der Szenarien ist zu berücksichtigen, dass die Chancen auf ein langes und gesundes Leben auch in den reichen Ländern einschließlich der europäischen Wohlfahrtsstaaten höchst ungleich verteilt sind. 5 Die Angehörigen der unteren Statusgruppen sind weitaus häufiger von chronisch-degenerativen Krankheiten und daraus resultierenden Einschränkungen der Lebensqualität betroffen. Außerdem treten bei ihnen viele Krankheiten früher im Leben auf und nehmen häufiger einen ungünstigen Verlauf. Bereits im Kindes- und Jugendalter wird die gesundheitliche Chancenungleichheit, die sich letztlich in einer höheren vorzeitigen Sterblichkeit in den statusniedrigen Bevölkerungsgruppen niederschlägt, sehr deutlich. 6 Vor diesem Hintergrund dürfte das optimistische Szenario eines längeren Lebens bei guter Gesundheit vor allem für die sozial besser gestellten Gruppen zutreffen, während der Zugewinn an Lebenszeit in den unteren Statusgruppen geringer ausfällt und die hinzugewonnen Lebensjahre oftmals mit gesundheitlichen Einschränkungen einhergehen.
Für Deutschland liegen bislang keine Untersuchungen zur zeitlichen Entwicklung von sozialen Unterschieden in der allgemeinen und gesunden Lebenserwartung vor. Selbst die Ausgangslage für eine solche Analyse ist noch nicht ausreichend beschrieben worden. Die im Folgenden vorgestellten aktuellen Untersuchungsergebnisse, die sich auf den Einfluss von Einkommensunterschieden auf die Lebenserwartung beziehen, sollen einen Beitrag in diese Richtung leisten. Sie basieren auf Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) und den Periodensterbetafeln des Statistischen Bundesamtes. Um die Ergebnisse einordnen und diskutieren zu können, wird zuvor der bisherige Forschungsstand beschrieben, wobei vor allem auf Untersuchungen aus anderen europäischen Ländern Bezug genommen wird.
Mit dem Begriff der sozialen Ungleichheit werden an bestimmte gesellschaftliche Positionen geknüpfte Vor- und Nachteile bezeichnet, die sich an der Verfügung über knappe und allgemein hoch bewertete Güter wie Einkommen, Vermögen, Macht, Sozialprestige, Bildung oder Wissen festmachen. 7 In diesem Sinne ist soziale Ungleichheit auch in den europäischen Wohlfahrtsstaaten ein wesentliches Merkmal der Gesellschaftsstruktur. Je nach wirtschaftlichen, politischen und gesetzgeberischen Rahmenbedingungen sind aber Unterschiede im Ausmaß und Erscheinungsbild der sozialen Ungleichheit festzustellen. Mit Blick auf die verschiedenen Wohlfahrtsregime lassen sich die Mitgliedstaaten der EU in drei Gruppen einteilen: 8 Die sozialdemokratisch geprägten Staaten, zu denen insbesondere die skandinavischen Länder Schweden, Norwegen, Finnland und Dänemark gezählt werden, zeichnen sich durch eine egalitäre Sozialpolitik und gut ausgebaute wohlfahrtsstaatliche Institutionen aus. Liberale Staaten wie Großbritannien setzen in erster Linie auf den Markt, Sozialleistungen gehen häufig nicht über Formen der Armenfürsorge hinaus. Konservative Staaten, für die neben Deutschland auch die anderen kontinentalen und die südeuropäischen Wohlfahrtsstaaten stehen, sind weder durch eine besondere Ausrichtung am Markt noch auf den Staat gekennzeichnet. Sozialleistungen werden zumeist über beitragsfinanzierte Systeme organisiert.
Geht man von der Einkommensungleichheit aus, dann lässt sich ein Zusammenhang zur mittleren Lebenserwartung feststellen, der durch das jeweilige Wohlfahrtsregime beeinflusst ist. 9 Das sozialdemokratisch geprägte Schweden ist das Land mit den geringsten Einkommensunterschieden in Europa. Im Jahr 2003 verdienten dort die einkommensstärksten 20 Prozent der Bevölkerung 3,3-mal mehr als die einkommensschwächsten 20 Prozent. Gleichzeitig haben schwedische Männer und Frauen mit 77,9 bzw. 82,4 Jahren im EU-Vergleich eine der höchsten Lebenserwartungen bei Geburt. Im liberalen Großbritannien beträgt das Verhältnis der Einkommen zwischen dem reichsten und ärmsten Fünftel der Bevölkerung 5,3. Entsprechend weisen die britischen Männer und Frauen mit 76,2 Jahren bzw. 80,7 Jahren eine niedrigere Lebenserwartung auf.
In Deutschland bewegen sich sowohl die Einkommensungleichheit als auch die Lebenserwartung im europäischen Mittelfeld. Das obere Fünftel der Bevölkerung erzielt Einkommen, die gegenüber dem unteren Fünftel um den Faktor 4,4 erhöht sind. Die mittlere Lebenserwartung beträgt für Männer 75,5 Jahre und für Frauen 81,3 Jahre. Das Bild in den übrigen kontinentalen Wohlfahrtsstaaten ähnelt dem in Deutschland. In den südeuropäischen Staaten ist die Einkommensungleichheit stärker ausgeprägt, mit den entsprechenden Konsequenzen für die Lebenserwartung. Sehr deutlich wird dies am Beispiel von Portugal: Die reichsten 20 Prozent verdienen 7-mal mehr als die ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung, und die mittlere Lebenserwartung bei Geburt liegt mit 74 Jahren für Männer und 80,5 Jahren für Frauen auf einem im EU-Vergleich sehr niedrigen Niveau.
Ungeachtet des Wohlfahrtsregimes lassen sich in allen Ländern der EU beträchtliche soziale Unterschiede in der Lebenserwartung beobachten, wobei neben dem Einkommen häufig auch der berufliche Status oder das Bildungsniveau betrachtet werden. Für Schweden, England und Portugal wird für Arbeiter ein Mortalitätsrisiko berichtet, das etwa 50 Prozent über dem von Angestellten liegt. 10 Analysen für Deutschland ergaben sogar ein doppelt so hohes Risiko der niedrigsten im Vergleich zur höchsten Berufsstatusgruppe. 11 Die sozialen Unterschiede treten bei allen vorherrschenden Todesursachen zutage. Besonders stark ausgeprägt sind sie bei der Sterblichkeit infolge von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Lungenkrebs. 12 Für viele Länder, etwa Schweden, England und Italien, lässt sich darüber hinaus zeigen, dass die sozial differenzielle Sterblichkeit bei Männern wie Frauen im Verlauf der 1980er und 1990er Jahre weiter zugenommen hat. 13Für Deutschland liegen hierzu bisher keine Forschungsergebnisse vor.
Das höhere Mortalitätsrisiko der unteren Statusgruppen spiegelt sich in einer niedrigeren Lebenserwartung wider. In Schweden beträgt der Unterschied zwischen der niedrigsten und höchsten Berufsstatusgruppe, wenn man von der ferneren Lebenserwartung im Alter von 20 Jahren ausgeht, bei Männern 3,8 Jahre und bei Frauen 2,1 Jahre. 14 Für England wird, bezogen auf die mittlere Lebenserwartung bei Geburt, eine Differenz von 4,9 Jahren bei Männern und 3,2 Jahren bei Frauen zwischen den ärmsten und den reichsten Regionen des Landes berichtet. 15 Aussagen zu Südeuropa sind auf der Basis von Daten der spanischen Großstädte Madrid und Barcelona möglich. Die berufsstatusspezifischen Unterschiede in der Lebenserwartung im Alter ab 30 Jahren betragen 2,4 bzw. 4,1 Jahre bei Männern und 1,2 bzw. 2,4 Jahre bei Frauen. 16 Für Deutschland kann auf Ergebnisse zu Bildungsunterschieden in der Lebenserwartung ab 16 Jahren zurückgegriffen werden. Der Abstand zwischen Abiturienten und Hauptschulabsolventen macht bei Männern 3,3 und bei Frauen 3,9 Jahre aus. Die Differenz in der Lebenserwartung bei Geburt zwischen dem untersten und obersten Einkommensquintil wird mit 10 Jahren bei Männern und 9 Jahren bei Frauen angegeben. 17
Zu sozialen Unterschieden in der gesunden Lebenserwartung gibt es nur vereinzelte Befunde. Eine schwedische Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die fernere Lebenserwartung bei guter Gesundheit ab 20 Jahren bei Männern und Frauen mit hohem Berufsstatus um 7,1 bzw. 5,7 über der in den Vergleichsgruppen mit niedrigem Berufsstatus liegt. 18 Der Anteil der gesunden Lebensjahre lag bei Männern mit hohem Status bei 88 Prozent und war damit um 7 Prozent höher als in der Vergleichsgruppe, bei Frauen lag er bei 82 Prozent und war um 6 Prozent höher. Für Großbritannien wird berichtet, dass 65- bis 69-jährige Männer der höchsten Statusgruppe 14 weitere beschwerdefreie Lebensjahre erwarten können, gleichaltrige Männer der niedrigsten Statusgruppe hingegen nur 11,5 Jahre; bei Frauen betrugen die entsprechenden Werte 15,5 und 13,8 Jahre. 19 Das entspricht einem Anteil der gesunden Lebensjahre von 93 Prozent bei den Männern aus den oberen und von 85 Prozent bei denjenigen aus den unteren Statusgruppen (Frauen: 83 Prozent gegenüber 74 Prozent). Für Deutschland existiert bisher nur eine Studie zu sozialen Unterschieden in der gesunden Lebenserwartung. 20 Sie weist deutliche Einkommens- und Erwerbsstatusunterschiede im Mortalitätsrisiko von gesunden und gesundheitlich beeinträchtigten Männer und Frauen aus und verweist zudem auf Unterschiede in Erkrankungs- und Gesundungswahrscheinlichkeiten.
Im Folgenden werden Ergebnisse zu Einkommensunterschieden in der allgemeinen und gesunden Lebenserwartung der Bevölkerung Deutschlands vorgestellt, die auf Daten des SOEP basieren. Es handelt sich dabei um eine Haushaltsbefragung, die seit 1984 jährlich vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) durchgeführt wird. 21 Hauptanliegen der Studie ist eine zeitnahe Erfassung des politischen und gesellschaftlichen Wandels in Deutschland. Das Stichprobendesign ermöglicht repräsentative Aussagen im Querschnitt und eine längsschnittliche Weiterverfolgung der Studienteilnehmer.
Durch eine sorgfältige Nacherfassung bei Nichterreichbarkeit der Studienteilnehmer können Todesfälle im SOEP relativ gut ermittelt werden. 22 Allerdings zeigt sich im Vergleich zu den amtlichen Sterbetafeln, dass die Lebenserwartung auf Basis der SOEP-Daten leicht überschätzt wird. 23 Ein Grund hierfür ist, dass Befragte mit einem schlechten Gesundheitszustand und entsprechend höherem Sterberisiko häufiger die weitere Teilnahme an der Untersuchung verweigern. Auch durch die Nachverfolgung der ausgeschiedenen Studienteilnehmer und eine statistische Anpassungsgewichtung wird diese Verzerrung nicht vollständig ausgeglichen. Für die Schätzungen zur Lebenserwartung werden deshalb zusätzlich die Periodensterbetafeln des Statistischen Bundesamtes herangezogen. Das SOEP wird verwendet, um Einkommensunterschiede im Mortalitätsrisko zu ermitteln. Anhand der Periodensterbetafeln werden anschließend die entsprechenden Unterschiede in der Lebenserwartung bestimmt. 24
Die Analysen beziehen sich auf den Zeitraum 1995 bis 2005 und Angaben von mehr als 32 500 Personen im Alter ab 18 Jahre. Innerhalb des Beobachtungszeitraums wurden 1 902 Todesfälle verzeichnet. Als Einkommensindikator wird das so genannte Netto-Äquivalenzeinkommen betrachtet, das die Größe und Zusammensetzung des Haushaltes und damit Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften in einem Mehr-Personenhaushalt sowie die unterschiedlichen Einkommensbedarfe von Erwachsenen und Kindern berücksichtigt. 25 Das mittlere Netto-Äquivalenzeinkommen der 18-jährigen und älteren Bevölkerung lag im Jahr 2005 bei 1 398 Euro. Davon ausgehend wurden für die Analysen fünf Einkommenspositionen bestimmt: Unter 60 Prozent, 60 bis unter 80 Prozent, 80 bis unter 100 Prozent, 100 bis unter 150 Prozent, über 150 Prozent des gesellschaftlichen Mittelwertes (Median). 26 Personen mit einem Einkommen unterhalb der 60-Prozent-Schwelle, die im Jahr 2005 bei 839 Euro lag, sind nach sozialpolitischer Definition von Armut betroffen oder gefährdet. Die 150-Prozent-Schwelle, die 2 097 Euro betrug, kann entsprechend zur Abgrenzung relativer Wohlhabenheit herangezogen werden.
In den Abbildungen 1a und 1b sind Überlebensraten von Männern und Frauen in verschiedenen Einkommensgruppen dargestellt. Am Verlauf der Kurven ist zu ersehen, wie hoch der Anteil in den betrachteten Gruppen ist, der bis zu einem bestimmten Alter überlebt. Für beide Geschlechter zeigt sich spätestens ab einem Alter von 50 Jahren eine graduelle Zunahme der Überlebensraten mit der Einkommensposition. Bei Männern ist dieser Gradient gleichförmig ausgeprägt, bei Frauen ist vor allem die deutlich niedrigere Überlebensrate der Armutsrisikogruppe auffällig.
Die Einkommensunterschiede finden auch in den relativen Mortalitätsrisiken einen deutlichen Niederschlag (Abbildung 2). Das altersstandardisierte Mortalitätsrisiko von Männern und Frauen aus der niedrigsten Einkommensgruppe ist im Vergleich zu dem der höchsten Einkommensgruppe um den Faktor 2,7 bzw. 2,4 erhöht. Auch für die mittleren Einkommensgruppen lässt sich ein erhöhtes Mortalitätsrisiko feststellen. Die Vertrauensintervalle weisen bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 5 Prozent die Mortalitätsrisiken von Männern in den drei niedrigsten Einkommensgruppen als statistisch bedeutsam aus. Bei Frauen ist nur das Mortalitätsrisiko der einkommensschwächsten Gruppe signifikant erhöht. Abbildung 2: Relatives Mortalitätsrisiko nach Einkommen und Geschlecht
In Abbildung 3 wird auf Basis der altersstandardisierten Mortalitätsrisiken und der Periodensterbetafeln dargestellt, wie hoch der Anteil der Männer und Frauen in den Einkommensgruppen ist, die wahrscheinlich vor Erreichen des 65. Lebensjahrs sterben. Die vorzeitige Sterblichkeit ist umso höher, je niedriger das Einkommen ist. Im Vergleich zur höchsten Einkommensgruppe sterben in der niedrigsten Einkommensgruppe mehr als doppelt so viele Männer und Frauen, bevor sie das 65. Lebensjahr erreicht haben.
Für die Analyse der Einkommensunterschiede in der Lebenserwartung wurde neben der Lebenserwartung bei Geburt und der Lebenserwartung ab einem Alter von 65 Jahren auch die Lebenserwartung in Gesundheit betrachtet (Tabelle). Als gesunde Lebensjahre wurden die Jahre erachtet, die bei sehr gutem oder gutem allgemeinen Gesundheitszustand verbracht werden. Im Zeitraum 1995 bis 2005 betrug die mittlere Lebenserwartung bei Geburt für Männer 75,3 und für Frauen 81,3 Jahre. Die Differenz zwischen der höchsten und niedrigsten Einkommensgruppe betrug bei Männern 10,8 Jahre und bei Frauen 8,4 Jahre. Männer und Frauen, die das 65. Lebensjahr erreicht haben, konnten damit rechnen, 15,7 bzw. 19,3 weitere Jahre zu leben. Im Vergleich zwischen dem oberen und unteren Ende der Einkommensverteilung ergibt sich bei Männern eine Differenz von 7,4 und bei Frauen von 6,3 Jahren. Auch in der gesunden Lebenserwartung finden die Einkommensunterschiede einen deutlichen Niederschlag. Von Geburt an können Männer mit 64,8 und Frauen mit 66,6 gesunden Lebensjahren rechnen. Das entspricht einem Anteil von 86 bzw. 82 Prozent an der gesamten Lebenszeit. Der Abstand zwischen der höchsten und niedrigsten Einkommensgruppe lässt sich mit 14,3 bzw. 10,2 Jahren angeben. Die Einkommensunterschiede in der gesunden Lebenserwartung ab dem Alter von 65 Jahren betragen 5,9 Jahre bei Männern und 3,9 Jahre bei Frauen. Auch bei Betrachtung des Anteil der gesunden Lebensjahre an der gesamten Lebenszeit fallen deutliche Einkommensunterschiede auf.
Die berichteten Ergebnisse weisen auf einen Einkommensgradienten in der allgemeinen und gesunden Lebenserwartung der Bevölkerung in Deutschland hin. In der Tendenz gilt: Je höher das Einkommen, desto eher besteht die Aussicht auf ein langes und gesundes Leben. Bei Männern sind diese Unterschiede noch etwas stärker ausgeprägt als bei Frauen. Die Ergebnisse entsprechen weitgehend denen, die für andere europäische Länder berichtet werden. Selbst in den skandinavischen Wohlfahrtsstaaten variiert die Lebenszeit stark mit dem sozialen Status, trotz der gut ausgebauten Systeme der sozialen Sicherung und der im europäischen Vergleich hohen allgemeinen Lebenserwartung. 27
Vor dem Hintergrund der massiven Probleme auf dem Arbeitsmarkt und der Alterung der Bevölkerung tendiert die Sozialpolitik in Europa mehr und mehr zum Modell des aktivierenden Sozialstaates. Infolgedessen könnte es zu einer weiteren Ausweitung der sozialen und gesundheitlichen Ungleichheit kommen. 28 Bisher hat es zumindest noch kein europäisches Land vermocht, das Auseinanderdriften der Mortalitätsrisiken zwischen den sozial benachteiligten und privilegierten Bevölkerungsgruppen erfolgreich zu bekämpfen. Auf EU-Ebene werden heute allerdings im Sinne des Ziels "Equity in Health" gemeinsame Anstrengungen unternommen, um Ansätze zur Verringerung gesundheitlicher Ungleichheiten zu finden. 29 In einzelnen Ländern haben sich diese inzwischen in konkreten politischen Aktionsplänen und Zielvorgaben niedergeschlagen. Beispielsweise hat die britische Regierung im Jahr 2003 das Programm "Tackling Health Inequalities: a Programme for Action" ausgerufen. Mit dem Programm verbindet sich u.a. das Ziel, die Mortalitätsunterschiede zwischen der niedrigsten und der höchsten Statusgruppe bis zum Jahr 2010 um 10 Prozent zu verringern.
In Deutschland gibt es bislang nur einzelne Aktivitäten, aber keine umfassende politische Strategie oder konkreten Zielvorgaben zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheiten. Angesichts der auch hierzulande zunehmenden Forschungstätigkeit und des wachsenden Problembewusstseins bleibt zu hoffen, dass die politischen Anstrengungen zunehmen und dabei die Erfahrungen aus anderen Ländern genutzt werden. 30
1 Vgl. Destatis,
Perioden-Sterbetafeln für Deutschland - Allgemeine und
abgekürzte Sterbetafeln von 1871/1881 bis 2002/2004, Wiesbaden
2006 (Destatis = der Publikationsservice des Statistischen
Bundesamtes Deutschland).
2 Vgl. ebd., Bevölkerung
Deutschlands bis 2050 - Ergebnisse der 11. Koordinierten
Bevölkerungsvorausberechnung, Wiesbaden 2007.
3 Vgl. Ernest M. Gruenberg, The failures
of success, in: Milbank Memorial Fund Quarterly. Health and
Society, 55 (1977) 1, S. 3 - 24; Lois M. Verbrugge/Alan M. Jette,
The disablement process, in: Social Science and Medicine, 38
(1994), S. 1 - 14.
4 Vgl. James F. Fries, Aging, natural
death, and the compression of morbidity, in: New England Journal of
Medicine, 303 (1980) 3, S. 130 - 135.
5 Vgl. Andreas Mielck, Soziale
Ungleichheit und Gesundheit. Empirische Ergebnisse,
Erklärungsansätze, Interventionsmöglichkeiten, Bern
2000; Johan P. Mackenbach, Health Inequalities: Europe in Profile,
Rotterdam 2006.
6 Vgl. Matthias Richter, Gesundheit und
Gesundheitsverhalten im Jugendalter. Der Einfluss sozialer
Ungleichheit, Wiesbaden 2005. Anmerkung der Redaktion: Siehe hierzu
auch den Beitrag von Nico Dragano in diesem Heft.
7 Vgl. Stefan Hradil, Soziale
Ungleichheit in Deutschland, Opladen 2001.
8 Vgl. Gࣺsta Esping-Andersen, The
three worlds of welfare capitalism, Princeton, N.J. 1990; ders.,
Towards the Good Society, Once Again?, in: ders (Ed.), Why we need
a new welfare state, New York 2002.
9 Vgl. Destatis, Im Blickpunkt:
Deutschland in der Europäischen Union 2006, Wiesbaden 2006;
Eurostat, Strukturindikatoren zur Gesundheit, 2003.
10 Vgl. Anton E. Kunst et al.,
Socioeconomic inequalities in stroke mortality among middle-aged
men: an international overview. European Union Working Group on
Socioeconomic Inequalities in Health, in: Stroke, 29 (1998) 11, S.
2285 - 2291.
11 Vgl. Uwe Helmert, Der Einfluss von
Beruf und Familienstand auf die Frühsterblichkeit von
männlichen Krankenversicherten, in: ders. (Hrsg.), Müssen
Arme früher sterben?, Weinheim 2000.
12 Vgl. J. P. Mackenbach (Anm.
5).
13 Vgl. Johan P Mackenbach et al.,
Widening socioeconomic inequalities in mortality in six Western
European countries, in: International Journal of Epidemiology, 32
(2003) 5, S. 830 - 837.
14 Vgl. Kristina Burström et al.,
Increasing socio-economic inequalities in life expectancy and QALYs
in Sweden 1980 - 1997, in: Health Economics, 14 (2005), S. 831 -
850.
15 Vgl. Mary Shaw et al., Health
inequalities and New Labour: how the promises compare with real
progress, in: BMJ, 330 (2005) 7498, S. 1016.
16 Vgl. Mauricio Avendano et al.,
Educational Level and Stroke Mortality: A Comparison of 10 European
Populations During the 1990s, in: Stroke, 35 (2004) 2, S.
432.
17 Vgl. Anette Reil-Held, Einkommen und
Sterblichkeit in Deutschland: Leben Reiche länger? in: DP
Sonderforschungsbereich 504, No. 00 - 14 (2000).
18 Vgl. K. Burström (Anm.
14).
19 Vgl. David Melzer et al.,
Socioeconomic status and the expectation of disability in old age:
estimates for England, in: Journal of Epidemiology and Community
Health, 54 (2000) 4, S. 286 - 292.
20 Vgl. Rainer Unger, Soziale
Differenzierung der aktiven Lebenserwartung im internationalen
Vergleich, Wiesbaden 2003.
21 Vgl. SOEPGroup, The German
Socio-Economic Panel (GSOEP) after more than 15 years - Overview,
in: Elke Holst et al. (Eds.), Proceedings of the 2000 Fourth
International Conference of German Socio-Economic Panel Study Users
(GSOEP2000), Berlin 2001.
22 Vgl. Infratest Sozialforschung,
Verbesserung der Datengrundlagen für Mortalitäts- und
Mobilitätsanalysen: Verbleibstudie bei Panelausfällen im
SOEP, München 2002.
23 Vgl. Rainer Schnell/Mark Trappmann,
Konsequenzen der Panelmortalität im SOEP für
Schätzungen der Lebenserwartung, in: Arbeitspapier - Zentrum
für Quantitative Methoden und Surveyforschung, (2006) 2.
24 Vgl. Destatis (Anm. 1).
25 Vgl. Richard Hauser, Zur Messung
individueller Wohlfahrt und ihrer Verteilung, in: Statistisches
Bundesamt (Hrsg.), Wohlfahrtsmessung - Aufgabe der Statistik im
gesellschaftlichen Wandel, Wiesbaden 1996.
26 Vgl. Markus Grabka, Peter Krause,
Einkommen und Armut von Familien und älteren Menschen, in:
DIW-Wochenbericht, 9 (2005).
27 Vgl. Johan P. Mackenbach et al.,
Socioeconomic inequalities in morbidity and mortality in western
Europe, in: The Lancet, 349 (2007), S. 1655 - 1659.
28 Vgl. Aus Politik und Zeitgeschichte,
(2005) 16, Thema "Arbeitsmarktreformen" und dies., (2006) 8 - 9,
Thema "Reformen des Sozialstaates".
29 Vgl. World Health Organization.
Regional Office for Europe, Health21: an introduction to the health
for all policy framework for the WHO European Region, Copenhagen
1998; Ken Judge et. al., Health Inequalities: a Challenge for
Europe, London 2006.
30 Vgl. Andreas Mielck, Quantitative
Zielvorgaben zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit:
Lernen von anderen westeuropäischen Staaten, in: Matthias
Richter/Klaus Hurrelmann (Hrsg.), Gesundheitliche Ungleichheit -
Grundlagen, Probleme, Perspektiven, Wiesbaden 2006.