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Jaroslaw Kaczynski ist abgewählt. Eine neue Ära beginnt damit aber nicht.
Ich hatte es satt, mich im Ausland ständig für meine Regierung rechtfertigen zu müssen", sagt Karol. "Man schämte sich ja regelrecht, zugeben zu müssen, aus Polen zu kommen", wirft Witold ein, der auf dem Sprung ist, seine Gastprofessur in Deutschland anzutreten und sich schon ausmalte, mit welchen Witzen ihn seine Kollegen und Studenten dort begrüßt hätten, wäre die Wahl anders ausgegangen.
Karol und Witold haben beide einiges auf sich genommen, um am 21. Oktober ihre Stimmen abzugeben: Der eine kehrte aus Deutschland in seine Heimatstadt zurück, der andere stand drei Stunden vor dem Konsulat in London Schlange, wo die schätzungsweise anderthalb Millionen ausgewanderter Polen ihre Stimmen abgeben konnten. Am Ende des Tages lag die Wahlbeteiligung bei über 53 Prozent, ein Rekord für die meist wahlmüden Bürger. In manchen Wahllokalen wurden sogar die Stimmzettel knapp und die Abstimmung musste unterbrochen werden. Als dann die Stimmen ausgezählt waren, ging alles sehr schnell.
Ein Kopf an Kopf Rennen zwischen der populistischen Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) und der liberal-konservativen Bürgerplattform (PO) hatten die Demoskopen vorausgesagt. Doch mit dem was kam, hatte niemand gerechnet: Ein zweistelliger Abstand trennte die Bürgerplattform von PiS. Vier Millionen Wähler mehr als vor zwei Jahren waren an die Urnen gepilgert. Die Partei des amtierenden Premierministers Jaroslaw Kaczynski wurde so abgewatscht, dass sich dessen Bruder Lech, immerhin Staatspräsident, noch Tage danach weigerte, den Siegern zu gratulieren. Eine gigantische Front aus böswilligen Medien, Dunkelmännern und der Opposition habe sich gegen seine Partei verschworen, wetterte der Premier am Tag danach. Schwer beleidigt kündigte er an, er werde gegen alle, die ihn im Wahlkampf kritisiert, beleidigt und verunglimpft hätten, vor Gericht ziehen.
Das dürfte die Gerichte auf Jahrzehnte hinaus beschäftigen: Jaroslaw Kaczynskis eigene Attacken gegen Intelektuelle, Richter, Medien und politische Gegner hatten eine Welle von regierungsfeindlichen Witzen, Ketten-SMS und speziell den regierenden Zwillingen gewidmete satirische Internetseiten ausgelöst. Ihre Wahlspots waren innerhalb von Stunden nach ihrem Erscheinen auf YouTube ins Gegenteil verkehrt, lächerlich gemacht oder in Satiren verwandelt worden, die dann unter polnischen Internetnutzern im In- und Ausland kursierten.
Auf den ersten Blick erscheint es paradox, dass in Polen eine Regierung abgewählt wurde, in deren Amtszeit ein deutlicher Rückgang der Arbeitslosigkeit, ein Wirtschaftswachstum von über sechs Prozent und ein Boom an privaten und öffentlichen Investitionen fällt, der in Europa seinesgleichen sucht. Doch mit dem eigenen Wahlkampf hatte PiS sich auf Felder begeben, die Kaczynski und seine Mannen angreifbar gemacht hatten: Sie rühmten sich für ihren Kampf gegen angeblich korrupte Eliten, Neureiche, Zivilgesellschaft, einflussreiche Lobbygruppen und Intellektuelle und trieben diese der Opposition zu. Sie wollten für den Kampf gegen die Korruption gelobt werden, duldeten aber mit Korruptionsvorwürfen belastete Politiker bei den Koalitionsparteien. Sie waren stolz auf ihre kompromisslose Außenpolitik, doch in den Medien und bei der Opposition maß man sie nicht an den Absichten, sondern ihren Folgen: der Isolierung Polens in Berlin, Moskau und Brüssel und fast bedingungslosem Gehorsam gegenüber Washington.
Jaroslaw Kaczynski propagierte den kompromisslosen Kampf gegen das Verbrechen, doch die Dienste, die ihn führten, gerieten bald in den Verdacht, die Verbrechen, die sie aufklären sollten, erst provoziert zu haben. Am Ende stürzte die Regierung über eine misslungene Provokation von Kaczynskis Korruptionsjägern gegen Kaczynskis Stellvertreter von der radikalen "Bauernselbstverteidigung", Andrzej Lepper, der gewarnt worden war, zum Gegenangriff überging und die Koalition aufkündigte.
Sogar ihre Erfolge wurden der Regierung zum Verhängnis. Ende der 90er-Jahre hatte die rasante, teilweise chaotische Reformpolitik der Regierung von Jerzy Buzek die Bevölkerung enorm verunsichert. Die Folge war ein populistischer Schub bei den Wahlen von 2001, der eine ganze Reihe von radikalen Parteien ins Parlament spülte, die 2005 dann eine Koalitionsregierung bildeten. Doch dann machten sich die segensreichen Folgen des EU-Beitritts bemerkbar, die Arbeitslosigkeit sank, hunderttausende Polen suchten sich Arbeitsplätze im Ausland, Polens Bauern kamen in den Genuss der EU-Agrarpolitik und hatten plötzlich etwas, wonach sie sich jahrzehntelang gesehnt hatten: stabile, berechenbare Einkommen und billige Kredite.
In den Großstädten gibt es nun praktisch keine Arbeitslosigkeit mehr, Reformen, die die Bürger hätten verunsichern können, brachte die Regierung Kaczynski nicht auf den Weg. Dafür stieß sie eine gesellschaftliche Gruppe nach der anderen vor den Kopf, isolierte das Land und machte es im Ausland lächerlich. Zu einer Zeit, als die Bürger ihr Selbstbewusstsein, ihr Zukunftsvertrauen und ihren Optimismus wiederentdeckten, wurden sie regiert von misstrauischen und unsicheren Politikern, die in Freund-Feind-Kategorien dachten, Sturheit mit Standfestigkeit verwechselten und überall Verschwörungen witterten.
Auch eine soziale Komponente steckte hinter dem Ruck, der am 21. Oktober durch Polen ging. Denn die Koalition aus PiS, der nationalkatholischen "Liga der polnischen Familien" und der "Bauernselbstverteidigung" machte Politik gegen Bürgertum und Großstädter, für die von den Reformen der Nachwendezeit vernachlässigte Provinz, das flache Land und diejenigen, die Soziologen gerne Modernisierungsverlierer nennen. Sie tat das so demonstrativ, dass sie damit die jungen, gebildeten Großstädter mobilisierte. Doch die meisten von ihnen stimmten für die liberale Bürgerplattform.
Zu PiS liefen 800.000 Wähler der kleineren Koalitionsparteien über, die aus dem Parlament verschwanden; PiS erhielt sogar elf Mandate mehr als vor zwei Jahren - doch das war zu wenig, um die Regierung zu bilden. Die anderen Parteien, die ins Parlament einzogen, hatte PiS so gegen sich aufgebracht, dass alle Versuche, mit ihnen zu koalieren, aussichtslos geblieben wären. Es versuchte auch niemand. Das tut nun der Parteichef der Bürgerplattform, Donald Tusk, der in den vergangenen zwei Jahren von einem blassen, unentschlossenen Provinzpolitiker zu einem Staatsmann herangereift ist. PiS und die vereinigte Linke verabschiedeten sich noch in der Wahlnacht in Richtung Oppositionsbänke.
Als Koalitionspartner verblieb die "Polnische Bauernpartei", eine ehemalige Blockpartei, die sich nach der Wende zum pragmatischen Mehrheitsbeschaffer für Links und Rechts gemausert hat. Schon drei Tage nach der Wahl verkündeten Donald Tusk und Bauernparteichef Waldemar Pawlak, sie seien sich über die wichtigsten Sachfragen und die Postenvergabe einig - ungewöhnlich für ein Land, in dem Koalitionsverhandlungen meist Wochen und Monate dauern und dabei bis zum Erschöpfen um jeden Posten gefeilscht wird.
Was sich außer dem Regierungsstil verändern wird, ist allerdings weniger klar. Führende Politiker der Plattform kündigten an, bis Ende 2008 werde Polen seine Soldaten aus dem Irak zurückziehen. Doch Verteidigungsminister Aleksander Szczyglo machte deutlich, so einfach werde das nicht sein - es gebe da Verpflichtungen gegenüber den USA. Donald Tusk will schnell daran gehen, die Beziehungen zu Russland, der EU und Deutschland zu verbessern - allerdings in dieser Reihenfolge. Ob sich an Polens EU-Politik viel ändert, ist fraglich.
Praktisch alles, was Polens Regierung in den vergangenen Jahren an Sand ins europäische Getriebe geworfen hat, stammt aus der Giftküche der Bürgerplattform. Deren Abgeordneter Jan Rokita (der bei diesen Wahlen nicht mehr antrat) hatte sich die Losung "Nizza oder Tod" ausgedacht, mit der die Plattform die damalige linke Regierung antrieb, die Unterzeichnung des EU-Verfassungsvertrags zu verweigern. Damit sollte die Stimmenverteilung im Rat der EU aus dem Nizza-Vertrag gerettet werden, die für Polen wesentlich günstiger war als die doppelte Mehrheit des Verfassungsvertrags. Das misslang, weil Polen in der Frage isoliert war. Daraufhin verfiel die Regierung Kaczynski auf die Idee, ein eigenes Abstimmungsmodell, basierend auf der Qudratwurzel der Bevölkerungszahl der Mitgliedstaaten zu lancieren. Auch das scheiterte, weil Polen dabei nur von Tschechien und Litauen unterstützt wurde.
Was nur wenige wissen: Auch dieses Modell stammt von Experten um Jacek Saryusz-Wolski, der PO-Abgeordneter im Europaparlament ist, in Sachen EU bei der Partei die Fäden zieht, sich aber der Unterstützung von Präsident Kaczynski und dessen Partei erfreut. Die ist so groß, dass Saryusz-Wolski gegen den Widerstand der PO-Führung, aber mit der Unterstützung von PiS, zum Vorsitzenden des außenpolitischen Ausschusses im Europaparlament gewählt wurde, wo er - sehr zum Verdruss der deutschen EVP-Abgeordneten - Elmar Brock ablöste.
Insider gehen deshalb davon aus, dass sich an den Inhalten der polnischen EU-Politik wenig ändern wird. Die Atmosphäre wird sich verbessern, polnische Vorstöße werden besser durchdacht sein, Polen wird die Europäische Grundrechtscharta akzeptieren, die die Regierung Kaczynski, in der irrigen Annahme, sie unterwerfe die nationale Gesetzgebung dem Europäischen Gerichtshof, verworfen hatte. Doch auch unter Tusk wird Polen gegen die geplante Ostseepipeline und ein "Zentrum gegen Vertreibungen" in Berlin Sturm laufen und versuchen, durch Druck und Blockaden mehr Einfluss in der EU zu erkämpfen. Auch die Beziehungen zu Russland werden gespannt bleiben und auf Polens EU-Politik zurückschlagen, solange Warschau mit Moskau um Einfluss auf Weißrussland und die Ukraine rivalisiert. Tusk ist der erste polnische Premier, der wegen seines Engagements für die weißrussische Opposition Einreiseverbot für Weißrussland hat.
Karol und Witold feiern trotzdem. Zum ersten Mal seit Jahren sind sie wieder stolz, Polen zu sein. "Polen hat gezeigt, wie man mit Populismus auf demokratische Weise fertig wird", wird Witold seinen deutschen Studenten sagen. Im Radio verkündet der Nachrichtensprecher, Tusk und Pawlak seien sich weitgehend über das Regierungsprogramm einig. Vor zwei Jahren dauerte es Monate, bis die Regierung Kaczynski ein Tolerierungsabkommen mit seinen Koalitionspartnern ausgehandelt hatte - das dann prompt aufgekündigt wurde. Tusk und Pawlak setzen sich demonstrativ davon ab, betonen das gegenseitige Vertrauen. "Es geht auch anders", soll das heißen. "Wir sind wieder in Europa", grinst Karol.