TÜRKEI
Die Krise im Nordirak lässt die strittigen Fragen mit der EU in den Hintergrund treten
Traditionell ist der Herbst die Zeit der Krisen zwischen der Türkei und der EU. Anlässlich der Vorstellung des alljährlichen EU-Fortschrittsberichts, in dem Brüssel immer Anfang November die Lage in dem Bewerberland unter die Lupe nimmt, wird regelmäßig Kritik der Europäer an Missständen in der Türkei laut; türkische Politiker beschweren sich daraufhin regelmäßig über angeblich unfaire Urteile der EU. Doch in diesem Jahr ist alles anders. Kurz vor Veröffentlichung des neuen EU-Berichts am 7. November blicken türkische Politik und Öffentlichkeit gebannt auf die Krise an der südöstlichen Grenze ihres Landes zum Irak und befassen sich nur am Rande mit europäischen Reformforderungen. Zudem beschert die Lage in Südostanatolien und die anhaltenden Angriffe der PKK-Kurdenrebellen den Türken ein völlig neues EU-Gefühl: Statt Kritik gibt es Unterstützung aus europäischen Hauptstädten.
Seit das türkische Parlament Mitte Oktober einen Grundsatzbeschluss fasste, der einen Einmarsch der türkischen Armee nach Nordirak erlaubt, laufen an der 330 Kilometer langen Grenze zwischen der Türkei und Irak die Kriegsvorbereitungen. Ziel der ins Auge gefassten Militärintervention sind die Lager der PKK in Nordirak, von wo aus die Rebellen in den vergangenen Monaten immer häufigere und immer gefährlichere Angriffe in der Türkei starteten. Beim jüngsten PKK-Überfall starben zwölf türkische Soldaten, kurz zuvor waren bereits 13 Soldaten getötet worden.
Irak und die USA befürchten eine Destabilisierung des irakischen Nordens, falls die Türken ihre Truppen und Panzer über die Grenze schicken. Die nordirakischen Kurden haben die Türkei im Verdacht, auch gegen ihre in den letzten Jahren stark ausgeweitete Autonomie vorgehen zu wollen, und nicht nur gegen die PKK-Rebellen. Um eine türkische Intervention noch abzuwenden, haben die USA der Regierung in Ankara versprochen, für konkrete Schritte gegen die PKK zu sorgen. Im Gespräch sind unter anderem Angriffe mit amerikanischen Marschflugkörpern auf die Stützpunkte der PKK. Damit könnten die Türken zumindest vorerst von einem Einmarsch abgehalten werden. US-Außenministerin Condoleezza Rice will Anfang November in der Türkei Gespräche über eine Lösung ohne türkische Intervention führen.
Viel Zeit bleibt aber nicht mehr. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, wegen der hohen Verluste der Armee unter erheblichem innenpolitischen Druck, will spätestens nach einem Besuch bei US-Präsident George Bush am 5. November einen Militärschlag in Nordirak anordnen, falls bis dahin nichts geschehen ist.
Während in Ankara eine Krisensitzung die andere jagt und Spitzenpolitiker wie Erdogan immer wieder mit irakischen Regierungsvertretern sprechen sowie telefonisch mit Rice und Bush beraten, bleibt für Europa nur wenig Zeit. Als vor wenigen Tagen erste Einzelheiten des neuen EU-Fortschrittsberichts durchsickerten, war das den meisten türkischen Zeitungen nicht einmal eine Meldung auf der Titelseite wert. Dabei kritisiert der Bericht die Türkei wegen der Menschenrechtslage, der politischen Einmischung der Militärs und der nach wie vor ungelösten Frage der Hafenöffnung für Güter aus dem EU-Staat Zypern. Die türkischen EU-Beitrittsverhandlungen liegen seit fast einem Jahr teilweise auf Eis: Acht der 35 Verhandlungskapitel sind wegen des Zypern-Streits weiterhin gesperrt. In den nach wie vor freien Bereichen kamen die Gespräche in den vergangenen Monaten wegen eines wachsenden Widerstandes aus Frankreich kaum voran.
Aber darüber kann sich in der Türkei derzeit niemand so richtig aufregen. Die pro-europäische Zeitung "Radikal" registrierte im neuen Fortschrittsbericht neben "altbekannter Kritik" sogar "neues Lob" aus Europa: Brüssel sei beeindruckt vom wirtschaftlichen Aufschwung in der Türkei und von der Art und Weise, wie die Krise um die Wahl des neuen Staatspräsidenten beigelegt worden sei.
Auf beiden Feldern hat Ankara tatsächlich Positives aufzuweisen: Die Wirtschaft wächst weiter stark und beschert den Türken ein Pro-Kopf-Einkommen, das bei Berücksichtigung der Kaufkraftparität inzwischen über 7.200 Euro im Jahr liegt - sehr viel mehr haben ärmere EU-Mitglieder wie Bulgarien oder Rumänien auch nicht aufzuweisen. In einigen Bereichen der Wirtschafts- und Finanzpolitik, wie etwa bei der Neuverschuldung, erfüllt die Türkei inzwischen Euro-Kriterien.
In der Präsidentenkrise gelang es den Türken trotz erheblicher Spannungen zwischen den von der Armee angeführten Kemalisten und dem fromm-konservativen Lager unter Erdogan, sich auf eine demokratische Streitschlichtung durch den Wähler zu einigen. Ein bereits angedrohter Putsch der Militärs wurde vermieden. Wichtiger als einige gute Noten im Fortschrittsbericht sind für die Türkei derzeit aber andere Ermutigungen der EU. Zum ersten Mal erhalte die Türkei von Europa volle Rückendeckung in einem Konflikt mit der PKK-Kurdenguerrilla, stellte der angesehene Kommentator Mehmet Ali Birand erstaunt fest. In den vergangenen Jahren hatten sich die Türken an scharfe Kritik aus der EU an der Kurdenpolitik Ankaras gewöhnt. Aus Sicht türkischer Politiker und Medien herrscht in Europa eine so große Sympathie für die Sache der Kurden, dass dieser Trend hin und wieder sogar in Unterstützung für die PKK mündete. "Der Terror der PKK ändert dies aber langsam", konstatierte Birand zufrieden.
Dass die EU-Institutionen bei allen Appellen zur Zurückhaltung ihr Verständnis für die Wut der Türken über die PKK-Gewalt äußerten, ist eine neue Erfahrung für Ankara. Sogar eine stillschweigende Zustimmung Brüssels zu einer örtlich und zeitlich begrenzten Militäraktion in Nordirak wollen türkische Beobachter aus Äußerungen von EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn herausgelesen haben.
Bis vor kurzem herrschte in Ankara die Meinung vor, eine Intervention im Nachbarland Irak würde unweigerlich eine Unterbrechung oder sogar einen vollständigen Abbruch der türkischen EU-Beitrittsverhandlungen nach sich ziehen. Premier Erdogan hatte noch vor wenigen Wochen eingeräumt, dass dieses Risiko bestehe. Die Türkei sei aber bereit, diesen außenpolitischen Preis zu zahlen, falls sie die Bedrohung durch die PKK nur mit Hilfe eines Irak-Einmarsches bekämpfen könne. Inzwischen glauben Experten, dass dieser Preis möglicherweise weniger hoch sein würde als befürchtet. Auf der internationalen Bühne verändere sich die Stimmung zugunsten der Türkei, analysierte der Kolumnist Murat Yetkin kürzlich: "Die Türkei ist nicht mehr so allein."