MENSCHENRECHTE
Immer mehr Russen klagen in Straßburg
Eine immer größere Zahl russischer Bürger wendet sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), um dort zu klagen. Mehr als 20.000 Verfahren sind mittlerweile in Straßburg allein aus Russland anhängig - und es kommen Woche für Woche neue Klagen dazu. "Das ist eine Zeitbombe, die da tickt", sagt die deutsche Richterin am EGMR, Renate Jäger. "Mein russischer Kollege sieht aus, als ob er kurz vor dem Zusammenbruch steht." Schließlich muß der nationale Richter an jedem Verfahren gegen sein Land beteiligt werden. Russland ist das größte Mitgliedsland des Europarates und beim Gerichtshof beschäftigen sich inzwischen ein Fünftel der Fälle mit der Russischen Föderation.
Seit 1996 ist Russland Mitglied des Europarates und ratifizierte zwei Jahre später die Menschenrechtskonvention. Seither ist der Weg auch für russische Bürger frei, wenn sie bei der eigenen Justiz erfolglos bleiben, sich nach Straßburg zu wenden. Auch wenn die Mehrzahl der Klagen zunächst abgewiesen werden, sind es besonders schwere Fälle, die vor den europäischen Richtern landen. Vor allem die zahlreichen Verbrechen gegen Zivilisten während der Tschetschenien-Kriege finden auf diese Weise erst in Straßburg endlich Gehör. "Es ist eine gute Möglichkeit, um die Debatte über Tschetschenien wiederzubeleben", sagt Jane Buchanan, Rechercheurin bei "Human Rights Watch".
In zahlreichen Fällen waren russische Kläger gegen ihren Staat bereits erfolgreich. So gab das Gericht zuletzt am 4. Oktober drei tschetschenischen Klägerinnen Recht und verurteilte den russischen Staat wegen der Tötung und Verletzung von Tschetschenen durch Sicherheitskräfte dazu, 95.000 Euro Schmerzensgeld zu zahlen. Die Beschwerde hatten zwei Frauen aus der Hauptstadt Grosny eingereicht, die im Jahr 2000 von Militärs durch Schüsse schwer verletzt wurden. Eine dritte Klägerin hatte ihre Eltern verloren, die von russischen Soldaten erschossen wurden. In der Urteilsbegründung hieß es, der russische Staat sei für die Vorfälle verantwortlich. In allen drei Fällen hätten die russischen Behörden gegen ihre Pflicht verstoßen, die Umstände der Angriffe und der Todesfälle aufzuklären und Ermittlungen einzuleiten. Bislang ist der russische Staat zwar den Schadenersatzzahlungen nachgekommen, aber es fehlt an der Bereitschaft, auch andere Auflagen des Gerichts zu erfüllen.