RAF-Opfer
Die Erinnerung war lange auf die Täter fixiert. Nun ist eine Trendwende zu beobachten.
Wenn jemand zu Beginn dieses Jahres hätte prognostizieren sollen, was sich zum 30. Jahrestag der Schleyer-Entführung, dem so genannten Deutschen Herbst, abspielen würde, dann hätte er wohl am ehesten auf die zu erwartenden Zeitungs- und Fernsehserien verwiesen. Kaum jemand wäre aber wohl auf die Idee gekommen, eine breite öffentliche Debatte zu erwarten, in deren Verlauf sich eine Art Perspektivwechsel hätte vollziehen können. Doch genau das ist geschehen und dabei spielen Personen die Hauptrolle, die in der Vergangenheit fast immer ignoriert worden sind oder aber zumindest im Hintergrund gestanden haben.
Denn um die Angehörigen der RAF-Opfer ist in der Öffentlichkeit bis vor kurzem - von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen - ein großer Bogen gemacht worden. Die Aufmerksamkeit konzentrierte sich durchweg auf die Täter. Um Aufschluss über die Entstehung des Terrorismus zu gewinnen, wurde zuerst nach den Lebensgeschichten jener gefragt, die in den Untergrund gegangen waren und dem Staat den Krieg erklärt hatten. Diese Perspektive war nicht nur von der Presse und den Medien insgesamt eingenommen worden, sondern auch - und das unter einer analytischen Perspektive durchaus zu Recht - von den Sozialwissenschaften. In den Lebenslaufanalysen, die Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre im Auftrag des Bundesinnenministeriums durchgeführt worden waren, ging es wie selbstverständlich um die Mitglieder linksterroristischer Organisationen. Die Opfer gerieten dabei nur bedingt ins Blickfeld. Sie waren kein eigenständiges Thema. Und deren Angehörige waren in der Öffentlichkeit vielfach in Vergessenheit geraten. Nicht wenige fühlten sich im Stich gelassen, auch von der Politik und den Vertretern des Staates.
Die öffentliche Ignoranz, die darin zum Ausdruck kam, war erstaunlicherweise nicht besonders weit von dem Umgang entfernt, den die RAF selbst verriet. Auch wenn es sich verbietet, beiderlei Haltungen auf ein- und dieselbe Stufe zu stellen, so muss die für beide Seiten charakteristische und letzten Endes gar nicht so unähnliche Ausblendung doch überraschen.
Seitens der RAF war die Stelle der Opfer, die sie selbst zu verantworten hatte, überhaupt nicht besetzt. Sie wurden völlig ignoriert, sie kamen nicht vor, sie waren so etwas wie "der blinde Fleck der RAF". Der erste, dem das aufgefallen war und der damit eine gewisse Einsichtsfähigkeit bewies, war selbst ein RAF-Mann, ein Vertreter der sogenannten ersten Generation. Bereits vor zwanzig Jahren schrieb Klaus Jünschke, kurz nachdem er vom damaligen rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel begnadigt und auf freien Fuß gesetzt worden war, dass "immer nur vom Leiden der Terroristen" die Rede sei und "niemand ein Wort über die Opfer" verliere.
Und als sich die RAF am 20. April 1998 mit ihrer Auflösungserklärung aus der Öffentlichkeit verabschiedete, stellte Jünschke resigniert fest, daß "das alte Tabu" immer noch nicht gebrochen sei. Lapidar stellte er fest: "Kein Wort über die Opfer." Statt dessen wurde in dem pathetischen Papier der Opfer aus den eigenen Reihen gedacht; jedes einzelne wurde namentlich erwähnt. Posthum sind sie darin zu Märtyrern erklärt worden, die ihr Leben angeblich für eine bessere Sache gelassen hätten.
Nun aber scheint Bewegung in dieses Missverhältnis gekommen zu sein und das Tabu angekratzt, vielleicht sogar geknackt zu werden. In Gang gekommen ist das vermutlich nicht zuletzt auch durch einen der Angehörigen selbst, durch den Sohn des ermordeten Generalbundesanwalts Siegfried Buback. Hartnäckig wie kaum ein anderer hat der Göttinger Chemieprofessor in den letzten Monaten immer wieder darauf insistiert, daß ihn im Grunde nur eine Frage interessieren würde - wer am 7. April 1977 in Karlsruhe die tödlichen Schüsse auf seinen Vater abgegeben habe. Er wolle den Namen des Täters und Details über den Hergang des Mordanschlags wissen. Es klang ganz so, als würde er die Informationen brauchen, um endlich seinen eigenen Frieden finden zu können. Jene Fragen hingegen, die in der Öffentlichkeit zunächst am meisten traktiert wurden, ob Brigitte Mohnhaupt vorzeitig auf freien Fuß gesetzt und Christian Klar begnadigt werden dürfe, schienen ihn nur bedingt zu interessieren.
Die RAF hatte sich in der Geschichte ihrer Anschläge, Attentate und Entführungen ausgiebig des von ihr betriebenen Opferkults bedient. Bei ihren Kommandos benutzte sie durchweg die Namen von Toten aus ihren eigenen Reihen. Es wurde ganz der Eindruck erweckt, als habe man durch die Serie von Anschlägen, Überfällen, Geiselnahmen und Mordaktionen zugleich eine Art Nekrolog stiften wollen.
Die RAF hat auf diese Weise drei verschiedene Aspekte miteinander zu verknüpfen versucht: Die ums Leben gekommenen Mitglieder posthum zu heroisieren, ihre terroristischen Aktionen durch den Tod ihrer eigenen Kämpfer in gewisser Weise zu weihen und den Anschein zu erwecken, dass es sich dabei immer nur um eine Reaktion auf eine bereits existierende, dem kapitalistischen bzw. imperialistischen System angeblich innewohnende strukturelle Gewalt gehandelt habe. Indem sich die RAF auf die Todesopfer aus ihren eigenen Reihen berief, um in deren Namen Gewaltaktionen durchzuführen, die unmittelbar auf fremde Todesopfer angelegt waren oder aber diese zumindest billigend in Kauf nahmen, unternahm sie den Versuch einer revolutionären, ja quasi-religiösen Rechtfertigung ihrer Terrorakte.
Die von den RAF-Kommandos Ermordeten spielten dagegen keinerlei Rolle in der Kanonisierung der Opfer. Nirgendwo sonst ist das manichäische, existenziell aufgeladene Weltbild der RAF so deutlich hervorgetreten wie in ihrem strikt separierenden Opferverständnis. Dem Kult um die eigenen Opfer, der unablässigen Heroisierung ihrer zu Tode gekommenen Aktivisten, wurde die Verachtung der fremden Opfer und ihre vollständige Tabuisierung entgegengesetzt. Diese waren nichts anderes als Störfaktoren, die es auszublenden galt. Es ist aufschlußreich, einen Blick zurück zu werfen und konkreter nach jenen Opfern zu fragen, die bei Angriffen der RAF, der "Bewegung 2. Juni" oder der "Revolutionären Zellen" ihr Leben verloren haben.
Die wichtigsten Berufsfunktionen der damals Getöteten waren: Industriemanager, Bankchef, Fabrikdirektor, Generalbundesanwalt, Kammergerichtspräsident, Wirtschafts- und Militärattaché, Wirtschafts- und Finanzminister. Es sind also vor allem Angehörige bestimmter Funktionseliten gewesen, auf die es die RAF abgesehen hatte. Die meisten entstammen dem Wirtschafts- und dem Finanzkapital, dem diplomatischen Dienst, der Politik und der Justiz. Als die RAF vor dreißig Jahren zur sogenannten "Offensive 77" blies, um ihre seit einem halben Jahrzehnt gefangenen Kernmitglieder freizupressen, ermordete sie mit Generalbundesanwalt Siegfried Buback, dem Bankier Jürgen Ponto und dem Präsidenten des Arbeitgeberverbandes Hanns-Martin Schleyer drei führende Repräsentanten von Staat, Finanzkapital und Großindustrie. Diese Auswahl war gewiss alles andere als Zufall. Die Angriffe dienten einerseits zwar der Freipressung, andererseits richteten sie sich aber auch gegen die drei Säulen des bundesdeutschen Staats- und Gesellschaftssystems. In den Augen der Täter handelte es sich bei diesen Opfern um nichts anderes als "Charaktermasken des Kapitals". Getroffen wurden jedoch keine abstrakten Funktionen, sondern Menschen aus Fleisch und Blut. Die drei Ermordeten, die von der RAF in ihren Kommandoerklärungen zielgerichtet entpersonalisiert worden waren, verkörperten für sie besonders wichtige Repräsentanten aus der Spitze des von ihr so verhaßten Systems.
Anders sah es dagegen mit einer Berufsgruppe aus, die die meisten Opfer zu verzeichnen hatte - der Polizei. Es waren insgesamt zehn Polizeibeamte, durchwegs niedrige Ränge, die bei der Bekämpfung des Terrorismus ihr Leben eingebüßt haben. Sie waren nicht die Hauptzielscheibe, jedenfalls keine aus rein ideologischen Gründen. Da es aber ihre Aufgabe war, das Gewaltmonopol des Staates durchzusetzen und die innere Sicherheit aufrechtzuerhalten, liefen sie am ehesten Gefahr, bei Auseinandersetzungen mit der RAF getroffen zu werden.
Ulrike Meinhof hatte überdies in ihrem berüchtigten Interview, das der Spiegel am 15. Juni 1970 unter dem Titel "Natürlich kann geschossen werden" veröffentlichte, jeden Zweifel ausgeräumt und Polizisten kurzerhand nicht nur als "Bullen", sondern auch als "Schweine" definiert, mit denen man nicht reden könne und auf die man im Ernstfall schießen müsse.
Vermutlich ist es kein Zufall, daß die Namen der Polizeibeamten oder der Fahrer in der öffentlichen Debatte bis zu diesem Jahr kaum eine Rolle gespielt haben. Und schon gar nicht etwa der Name von Edith Kletzhändler, einer Hausfrau, die 1979 in Zürich ganz zufällig bei einem Schußwechsel zwischen RAF-Leuten und der Polizei ums Leben gekommen war. Es sind die einiger weniger Prominenter, die im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit stehen. Es war daher keine Übertreibung, bislang von einer Art "Zweiklassengesellschaft der RAF-Opfer" zu sprechen.
Dieser Eindruck verstärkt sich im übrigen bei der Lektüre eines Buches, das in den letzten Monaten zu Recht auf großes Interesse gestoßen ist. So verdienstvoll der von Anne Siemens verfaßte Band mit dem Titel "Für die RAF war er das System, für mich der Vater" einerseits auch ist, so wenig wird darin andererseits diese unsichtbare Grenze zwischen den beiden Opfer-Klassen überschritten. Die Interviews wurden ausschließlich mit den Hinterbliebenen der prominenten RAF-Opfer geführt; die der Nicht-Prominenten kommen dagegen nicht darin vor. Das muß allerdings nicht bedeuten, daß sie einfach ignoriert worden sind; vielleicht ließen sich diese Gespräche nicht realisieren. Gleichwohl scheint die gesellschaftliche Ungleichheit, die für die Opfer der RAF im realen Leben Gültigkeit besaß, im Hinblick auf die Entstehung öffentlicher Aufmerksamkeit auch über den Tod hinaus zu reichen.