Die AnfÄnge
Tom Segev würdigt die Aufbauleistung der ersten Israelis. Und kratzt zugleich am Gründungsmythos
Unter dem Motto "Wir sind die Guten, die Araber sind die Schlechten" wurde der 1945 in Jerusalem geborene Tom Segev in der Schule erzogen. Zehn Jahre zuvor war sein Vater vor der Nazi-Herrschaft aus Deutschland nach Palästina emigriert. Seine Teilnahme am Unabhängigkeitskrieg 1948 bezahlte er mit dem Leben. Sein Sohn, ausgebildeter Historiker und Journalist, ist dem deutschen Lesepublikum ein Begriff: Tom Segev veröffentlichte fünf brillante Bücher, in denen er die Entwicklung des Staates Israel darlegt. Für sein Buch "Es war einmal ein Palästina" wurde er mit dem National Jewish Book Award ausgezeichnet.
Vor diesem Hintergrund erscheint es umso merkwürdiger, dass sich deutsche Verleger lange zurückhielten, Segevs erstes bereits 1984 erschienenes Buch "1949. Die ersten Israelis" zu publizieren. Rückblickend markiert es die Geburtsstunde der neuen israelischen Historiografie. Natürlich hatte die Zurückhaltung politische Gründe: Die Verlage wollten mit der Veröffentlichung des Buches, das mit vielen Mythen über die Staatsgründung Israels aufräumte, der rechten Szene keine Argumentshilfe liefern.
Inzwischen scheinen diese Bedenken weniger zu wiegen, denn die Monografie liegt auf Deutsch vor. Segev entwickelt darin ein grandioses historisches Panorama der ersten Jahre des Staates Israel. Das perfekt geschriebene Buch setzt den mutigen und beharrlichen ersten Israelis ein Denkmal, die ihr Leben mit nichts als ihrer Arbeitskraft neu beginnen mussten. Genauso kompromisslos, wie er die Aufbauleistung würdigt, widerlegt der Autor jedoch die Legende von der "sauberen Weste" des Landes während des ersten Unabhängigkeitskrieges. Segev berichtet von marodierenden israelischen Soldaten und von der organisierten Vertreibung der Palästinenser.
Dafür musste sich der Autor in seiner Heimat als Nestbeschmutzer und Selbsthasser beschimpfen lassen. "Die ersten Israelis" wurde als eine gegen den Zionismus gerichtete feindliche Arbeit bewertet. Für den Skandal, den sein Buch hervorrief, nannte der Autor Gründe: "Aber in einem Staat, dessen Existenz auf grundlegenden historischen Annahmen basiert, kann jeder Riss in existenziellen Mythen als lebensbedrohlich empfunden werden. Deshalb wird der historischen Forschung in Israel ein zentraler Platz im öffentlichen, politischen Dialog eingeräumt; das macht die israelische Politik so spannend."
Wie kam es, dass aus dem "Legenden treuen" Journalisten der Zeitung Ha'aretz ein Dissident und einer der renommiertesten Historiker des Landes wurde? Sein vermeintliches Versagen ist darauf zurückzuführen, dass er als einer der Ersten Anfang der 1980er-Jahre die Archive sichten durfte. Die 30-jährige Sperrfrist war abgelaufen, so dass die bis dahin geheimen Dokumente über die Staatsgründung der Forschung zugänglich waren. Segev verschlang die Protokolle der Kabinettsitzungen, geheime diplomatische Akten und die Berichte der Ministerien. Sein Buch, das auf diesen Studien beruht, sollte die israelische Gesellschaft zutiefst erschüttern.
Zunächst machte er eine überraschende Entdeckung: Hätte er als Journalist zur Zeit der Staatsgründung, also Mitte Mai 1948, das Land bereist, die wahre Geschichte wäre ihm verborgen geblieben. Denn der mächtige Ministerpräsident David Ben Gurion hatte den ersten Israelis einen Gründungsmythos verordnet, den niemand in Frage stellen durfte. Dessen ungeachtet nahm er sich täglich eine Stunde Zeit, um seine wahren Gedanken und Vorhaben detailliert in einem Tagebuch festzuhalten.
Diese einzigartige zeithistorische Quelle erschloss Segev für seine Leser: Der geschichtsbewusste Ministerpräsident rechnete nicht mit internationaler Unterstützung und befahl der Armee, für Israel möglichst viel von dem Land zu sichern, das der UN-Sicherheitsrat den Palästinensern zugesprochen hatte. Nachdem die arabischen Staaten Israel nach seiner Unabhängigkeitserklärung angegriffen und den Krieg verloren hatten, nutzten die ersten Israelis die Gunst der Stunden und vertrieben die Palästinenser aus den besetzten Gebieten. Der Ministerpräsident sprach lediglich von "wichtigen Veränderungen" in der demografischen Zusammensetzung des Landes.
"Die Linie der Regierung ist, dass sie nicht zurückkehren dürfen", ließ Ben Gurion im April 1949 seinen Einwanderungsminister wissen. Er erklärte seine Flüchtlingspolitik damit, dass die Araber, "einen totalen Krieg" gegen Israel führten und davon "weder von Amerika noch irgendeinem anderen Staat" abgehalten würden. Zudem hätten die Araber die Teilungsresolution der Vereinigten Staaten nicht akzeptiert: "Es gibt keine Flüchtlinge, es gibt nur Kämpfer, die versuchten, uns zu vernichten, und zwar restlos", notierte der Ministerpräsident. "Sollen wir die Flüchtlinge zurückholen, damit sie uns zum zweiten Mal ausrotten können?" Und weiter: "Das Völkerrecht verlangt nicht, dass Israel Selbstmord begeht".
Die ersten Israelis. Die Anfänge des jüdischen Staates.
Siedler Verlag, München 2008; 414 S., 24,95 ¤